Die "zu Stein gewordene Predigt"
des Ratzeburger Doms
 

Über seinem Grabmal im Braunschweiger Dom ist die Gestalt Heinrichs des Löwen dargestellt: In seiner linken Hand hält er ein Schwert als Zeichen seiner politischen Macht; in seiner rechten das Modell eben dieser Kirche. Mit diesem so dargestellten guten Werk tritt er vor Gott.






Foto: Aad Bastemeijer.

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Der Bildhauer dieses Grabmals hätte vier Modelle abbilden können, denn nach Heinrichs Willen sind außerdem die Dome zu Ratzeburg, Schwerin und Lübeck errichtet worden. Damit hat Heinrich in kaum zu überbietender Weise zur Mehrung der Ehre Gottes beigetragen.

Jeder Kirchenbau ist - in der Sicht des Hochmittelalters - ein Abbild der Herrlichkeit Gottes, ein sichtbares Zeichen des ewigen Heils. Das gilt um so mehr für eine Kathedrale, den Sitz eines Bischofs. Eine solche Kirche war für ihren Stifter, die Domherren und die Mitglieder der Bauhütte nicht nur ein großes Gebäude, für das sie alle damals vorhandenen technischen Kenntnisse und Fähigkeiten mobilisieren mußten. Eine Kirche predigt vom ewigen Heil mit jedem Stein, mit jedem Bogen, mit allem, was sie darstellt.

Sie bildet aber nicht nur das ewige Heil ab; zugleich stellt sie auch den Weg dar, der zu diesem Heil führt. Das war für den mittelalterlichen Menschen eine feste, nicht zu hinterfragende Überzeugung, daß das Leben der Pilgerweg zum ewigen Heil ist - oder , falls dieser Weg verfehlt wird, hin zur ewigen Verdammnis. Die Kirche und nur die Kirche hatte die Vollmacht, den einzelnen Menschen vor dieser Verdammnis zu bewahren, und nur sie hatte die Vollmacht, den Menschen auf den rechten Weg zu führen.

Dies wurde im Mittelalter ganz wörtlich verstanden: In allen Menschen jener Zeit war der Wunsch lebendig, wenigstens einmal im Leben eine Pilgerreise zu machen, um dadurch die guten Werke um ein wesentliches Teil zu vermehren:

  • Aus allen Ländern Europas führten Pilgerwege sowohl nach Rom als auch nach Santiago de Compostella (Nord-Spanien).

  • Der Heinrich-Dom zu Schwerin (in der Größe vergleichbar mit dem Ratzeburger Dom) wurde abgerissen und fünfschiffig neu errichtet, nachdem man dort in den Besitz eines Tropfens des Heiligen Blutes gekommen war und von Pilgern geradezu überrannt wurde.

  • Heinrich der Löwe war 1172 ein Jahr lang auf Pilgerreise im Heiligen Land.

Pilgern ist die erste Form des Reisens, und Hunderttausende haben sich auf diese Weise bewegt, um fremde Länder zu sehen, Abenteuer zu erleben und einen großen Schritt auf das eigene Heil hin zu tun. Es ist in sich stimmig, daß die Kirchengebäude als Ziele solcher Reisen das ewige Heil und den Weg dorthin abbilden beziehungsweise davon predigen.

An allen romanischen Kirchen, die aus Kalk- oder Sandstein erbaut sind, finden sich solche Predigten in Gestalt von Reliefs. Sie weisen hin auf Christus, auf Zeugen des Glaubens, auf die Notwendigkeit der Buße und Umkehr. Sie weisen ebenfalls hin auf die Gefahren des Scheiterns auf dem Heilsweg und das damit verbundene Ende in der Hölle.

Solche Reliefs gibt es im Ratzeburger Dom nicht: Er ist aus Backsteinen gebaut, und die taugen nicht zur Herstellung solcher bildlicher Darstellungen. Wenn die Voraussetzung richtig ist, daß die Ansichten über die Art und Weise, wie die Kirche zu bauen sei, in allen Bauhütten der Romanik einigermaßen gleich war, dann müssen sich solche Hinweise auch im Ratzeburger Dom finden lassen. Sie lassen sich finden: Seine Bauleute haben durch die Architektur das anschaulich gemacht, was anderswo in Bildern dargestellt wurde:

  1. Der Grund des Heils ist das Kreuz Jesu. Darum gibt es kaum einen Kirchenbau zu jener Zeit, der nicht das Kreuz als Grundriß hätte. Das Kreuz als Fundament des Heils markiert auch das Fundament des Domes.

  2. Das Wort vom Kreuz muß ergänzt werden durch das Wort der Auferstehung. Darum ist eine Kirche der Romanik mit der Spitze des Kreuzes nach Osten ausgerichtet: Zur Zeit des Sonnenaufgangs fanden die ersten Zeugen das Grab leer; das Licht des Lebens siegt über die Nacht des Todes.
    Für die Erbauer unseres Domes war es nicht leicht, eine Kirche dieser Größe exakt von Ost nach West zu errichten; denn der Hügel, auf dem sie stehen sollte, war für ihre Länge zu schmal. Man hat ihn darum nach Westen durch Anschüttung verlängert. Das sogenannte Steintor, ein Haus mit 15 Meter langer Durchfahrt, ist so alt wie der Ratzeburger Dom selbst und liegt unterhalb des Turmes, ihm genau gegenüber. Ganz offensichtlich wurde es so gebaut, um die Erdmassen am Abrutschen zu hindern und so die Standhaftigkeit des Turmes zu bewahren.

  3. Der Ratzeburger Dom wurde aus zwei Gründen auf diesen Hügel gesetzt: Der erste Grund war das Heiligtum der slawischen Fruchtbarkeitsgöttin Siwa, das vordem an diesem Platz gestanden hatte. Der Sieg des Christentums über diese heidnische Gottheit wurde durch den Bau des Domes augenfällig gemacht.Der wichtigere zweite Grund aber ist, daß das Symbol des ewigen Heils das Himmlische Jerusalem ist. Jerusalem aber liegt erhöht. In der Bibel geht man nicht "nach" Jerusalem, sondern immer "hinauf". Das ist zugleich der Weg, den der Mensch gehen soll, und diese Steigung beginnt am Friedhofstor und setzt sich fort im Inneren der Kirche bis zum Altar, dem ursprünglich höchsten Punkt des Domes.Der Anstieg im Dom selbst folgt nicht der ursprünglichen Bodenbeschaffenheit, sondern ist ebenfalls bewußt angelegt worden. Die Fundamente des Altars reichen mehrere Meter tief; bei der grundlegenden Restaurierung in der Mitte des letzten Jahrhunderts konnten sie nicht ergraben werden, weil sonst die Mauern der Apsis in die tiefe Grube gerutscht wären. Altäre wurden im Hochmittelalter aber nicht auf angeschütteten, sondern nur auf gewachsenem Boden gegründet. Der Altar benötigt aus statischen Gründen kein tiefes Fundament. Wahrscheinlich wurde er auf gewachsenem Boden gegründet und anschließend Erdreich nachgefüllt, um den Anstieg zu erreichen, der den Weg zu der Stelle verdeutlichen sollte, an dem sich Himmel und Erde berühren.

  4. Der Weg führt nicht nur hinauf, er führt auch hinein, und zwar durch eine Tür, die im Vergleich zum gesamten Dom recht schmal ausgefallen ist. Wir betreten also den Dom durch eine enge Pforte - genau der Weisung Jesu folgend: Gehet ein durch die enge Pforte! Die Bögen im Inneren des Domes zeigen, daß es den Erbauern nicht schwergefallen wäre, ein großes Eingangsportal zu schaffen. Wenn man darüber nachdenkt, warum sie darauf verzichtet haben, und wenn man die Voraussetzung teilt, daß die bildlichen Aussagen anderer romanischer Kirchen auch im Dom zu Ratzeburg zu finden sein müßten, dann liegt diese Deutung des schmalen Haupteingangs nahe.

  5. Alle vier Löwendome haben noch oder hatten ursprünglich ihren Haupteingang entweder an der Nordwest-Ecke (wie in Braunschweig oder Lübeck) oder an der Südwest-Ecke wie Schwerin und Ratzeburg. Das hat zur Folge: Man betritt das Innere der Kirche und muß nach wenigen Schritten von der ursprünglichen Wegrichtung im rechten Winkel abbiegen, um zum Altar - dem Ziel des Pilgerweges - zu gelangen. Die Absicht, die dahinter steht, könnte folgende gewesen sein: Die Architektur zeigt dem Pilger, daß er nicht einfach so weitergehen kann, wenn er zum Heil gelangen will. Er muß seinem Weg eine andere Richtung geben. Biblisch gesprochen: Er muß Buße tun. Was die Füße der Pilger im Westteil des Domes tun, soll ihr Herz erreichen.

  6. Nachdem wir unserem Weg eine andere Richtung gegeben haben, sehen wir zur Rechten einen Spitzbogen, wo ein Rundbogen zu erwarten wäre. Er ist von Osten her gesehen auf der Südseite des Domes der letzte von je sechs Bögen zwischen den Pfeilern, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen.Das himmlische Jerusalem hat nach der Offenbarung des  Johannes (Kap.21,12ff) zwölf Tore. Diese Zahl ist hier sichtbar gemacht. Der Bogen ist spitz, weil der Abstand zwischen den Pfeilern an dieser Stelle etwa um einen halben Meter kürzer ist als der zwischen den anderen Pfeilern. Um den Bogen nicht kleiner erscheinen zu lassen, hat man ihn nach oben gezogen. Die Erklärung, die Bauleute hätten sich an dieser Stelle vermessen, ist wenig einleuchtend. Viel stimmiger ist die Deutung, man habe hier bewußt einen sichtbaren "Fehler" eingebaut, um den Pilger, der wenige Schritte zuvor Buße getan hat, darauf hinzuweisen: Du bist und du bleibst Sünder. Vollkommen ist Gott allein.

  7. Wer den Dom betreten hat, sieht einen Raum, der Harmonie ausstrahlt. Dieser Eindruck ist nicht zufällig, sondern gewollt. Kein biblischer Satz wird in den Schriften der romanischen Zeit so häufig zitiert wie die Weisheit Salomonis (11, 21): Omnia in mensura et numero et pondere disposuisti (Alles hast du nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet).
    In dem harmonischen Zusammenspiel verschiedener Größen erkennt der Mensch des Hochmittelalters einen Hinweis auf den Geist und die Kraft Gottes, der alles durchwaltet und zu vollkommener Harmonie bringt.

Die Harmonie des Ratzeburger Domes ist auf das sorgfältigste geplant und gewollt. Zwei Grundformen bestimmen das Gebäude: Das Quadrat und der Kreis, dieser allerdings nur in Form des halben Kreises. Beides sind nicht schlichte geometrische Figuren, sondern  mit Symbolik geradezu überfrachtet.
Das Quadrat mit der ihm zugeordneten Zahl Vier erinnert an die vier Jahreszeiten, die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft. Es ist das Symbol für die geschaffene Welt.
Der Kreis als die Form, die mit einer endlosen Linie beschrieben wird, ist das Symbol Gottes.
Das Mittelschiff des Domes besteht aus sechs aufeinander folgenden Quadraten, je eines in Chor und Vierung, drei im Mittelschiff, eines unter dem Turm. Die anderen drei Löwendome bestanden ursprünglich in ihrem Inneren aus sieben Quadraten. So konnte man in Ratzeburg wohl darum nicht bauen, weil die dafür erforderliche weitere Anschüttung des Hügels zu weit in das sumpfige Ufergebiet des Ratzeburger Sees hineingekommen wäre. Möglicherweise ist das Quadrat der Vorhalle als das "fehlende" siebte Quadrat anzusehen. Kreis und Quadrat findet man in jener Zeit auch als Maß des Menschen wieder: Am bekanntesten ist die Zeichnung Leonardo da Vincis, die einen Mann abbildet, der je nach Arm- und Beinhaltung ein Quadrat beziehungsweise eine Kreislinie berührt. Diese Darstellung ist schon zu Leonardos Zeiten älteste Überlieferung: Sie geht zurück auf den Römer Vitruvius, der im 1. Jahrhundert vor Christus zehn Bücher über Architektur geschrieben hatte.
Quadrat und Kreis sind nach antiker und mittelalterlicher Auffassung, die Formen, die dem Menschen entsprechen und gleichzeitig das Göttliche widerspiegeln. Wenn man sie mit Hilfe der richtigen  Abmessungen (der richtigen Zahlen)  in ein angemessenes  Verhältnis bringt, dann muß das Ergebnis harmonisch sein.

Welches sind diese Zahlen?

Im Dom hat ein Quadrat eine Kantenlänge von 8,28 Metern. Das entspricht exakt einer Länge von 24 karolingischen Fuß à 34,5 Zentimetern. Nach diesem Fußmaß ist auch der Klosterplan von St. Gallen gezeichnet worden.

In der Zahl 24 sind enthalten:

  • die 12 (12 Jünger, 12 Stämme Israels, 12 Tore des Himmlischen Jerusalems)

  • die 6 (nach antiker Auffassung eine "vollkommene Zahl", weil sie in sich in die Summe ihrer Divisoren trägt: 1+2+3=6; diese Eigenschaft teilt sie nur noch mit 28 und 496)

  • die 4 (siehe oben besprochen)

  • die 3 (im christlichen Bereich die Zahl Gottes)

Das Mittelschiff ist 48 Fuß hoch, die Seitenschiffe des Ratzeburger Domes sind 12 Fuß breit und 24 Fuß hoch, die Pfeiler sind vier Fuß breit, die Eingangstür im Innenmaß 5 Fuß breit, im Außenmaß 7 Fuß. Die 6 Quadrate des Mittelschiffes sind ohne die Apsisrundung 168 Fuß lang (=7mal 24 Fuß), das Querschiff mißt mit 84 Fuß exakt die Hälfte der Länge.
Weil alles (nicht auf den Zentimeter, aber) auf den Fuß genau ausgemessen ist, darum kann ein Vermessungsfehler bei dem oben benannten letzten Pfeiler der Südseite ausgeschlossen werden. Die Bauleute wußten, als sie die Mauern der Apsis in Angriff nahmen, daß sie eine unbekannte Zahl von Jahren später 7 mal 24 Fuß weiter die Westmauer aufrichten würden.

"Alles hast du nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet."

Diesen Glaubenssatz im Dom zu Ratzeburg immer wieder erleben zu können, ist wunderbar. 

Domprobst em. Hans-Jürgen Müller