Lauenburgische Heimat Neue Folge

Heft 64, April 1969


Carl Jacob, Lübeck

Der Ratzeburger Dom
Die ungeklärten Fälle
 

Seit der festlichen Weihe des restaurierten Domes am Ansverus-Tag, den 15. Juli 1966, sahen viele Menschen das Gotteshaus, nahmen teil am Gottesdienst, an Morgenandachten und an abendlichen Chor- und Orgelkonzerten und spürten im Denken und in Andacht die Strahlungskraft dieses Bauwerks, das nun in der wiederhergestellten "Urfassung" zu uns spricht. Es ist beglückend, diese Menschen über ihre Eindrücke sprechen zu hören. Aus zwei in jüngster Zeit an Domprobst Dr. Groß gerichteten Briefen 1) seien einige Sätze als Beispiel dafür wiedergegeben: ". . . Noch nie hat ein Raum so stark auf meine Augen und mein Gefühl eingewirkt wie dieser, in dem wir einander begegnet sind, kleine Menschen, doch einbezogen in die Größe, die hier wohnt, in die Würde, die sonst überall zerbricht, in den Ernst, den das einfallende Licht so ergreifend heiter stimmt. Es ist ein wohnliches Haus, trotz seiner Strenge, und sein Geist kann Menschen verwandeln . . ." ". . . Mein Verhältnis zu Ihrem Dom wurde schon in meiner Jugend begründet. Doch nie war ich so ergriffen, überwältigt und erhoben wie dieses Mal. ... Es ist so gar keine kirchliche Eitelkeit in diesem Haus! Es ist in ihm alles, was uns Menschen fehlt: Größe, Strenge, Reinheit, Einfachheit, Würde, Herrlichkeit..."

Eine wundervolle Aufgabe war es, aus den "verhüllenden Umwandlungen des 19. Jahrhunderts", aber auch der Jahrhunderte davor, "den ursprünglichen Kern herauszuschälen" (Peter Hirschfeld), also bis zur "Urfassung" vorzustoßen. Ich habe es mir nun zum Ziele gesetzt, auch in den Randbereichen neben dem Dominnern, also in der Vorhalle, Sakristei, im Kapitelsaal, Archivraum, im Kreuzgang und am Äußeren des Gotteshauses an der Südfront der Vorhalle, am Turm, an den beiden Nebenapsiden und an seinen Ausstattungsstücken, wie z. B. am spätgotischen Wandelaltar und den mittelalterlichen Holzschnitzwerken, Schicksalsspuren abzulesen und sie bis zu ihren Anfängen zurückzuverfolgen. Die Arbeit wird freilich dadurch erschwert, daß wesentliche Bauurkunden weder vorhanden, noch erreichbar sind. Aber wer mit seinen Mitarbeitern während der Jahre 1960 bis 1966 und auch schon vorher seit 1952 mit offenen Augen und empfänglichem Sinn den Dingen um dieses Gotteshaus nahe war, dem erschließen sich auch Quellen, die zu Erkenntnissen führen.

In lockerer Folge soll hier darüber berichtet werden. Ich möchte zuerst einiges über die Vorhalle, dann über den Turmbau, anschließend über die Nebenapsiden und den gotischen Wandelaltar mitteilen.

Die Vorhalle

Mit dem Bau der Eingangshalle um 1220 war der Ratzeburger Dom nach einer Bauzeit von einem halben Jahrhundert im wesentlichen abgeschlossen. Erst 1251 begann man mit dem Bau des Ostflügels der Klausurgebäude. Die Vorhalle, das "reizvollste und am meisten durchgestaltete Baugebilde sowohl im Äußeren als auch im Inneren, das wir am Ratzeburger Dom antreffen, eine Spitzenleistung des frühen Backsteinbaue;, überhaupt" (Kamphausen), ist ursprünglich eine Marienkapelle gewesen. Heinrich der Löwe hatte gelobt 2), den Dom zu Ehren der
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1) Erich Lüth, ehemaliger Pressechef des Hamburger Senats.
2) von Notz, Seite 20. Vgl. auch Zehntenregister. Meckl. Urkundenbuch I. Band 786-1250, Schwerin 1863, Seite 377 in Nr. 375: "Hanc liberam cum omni iure dux Heinricus contulit Raceburgensi episcopo, quia, cum primum intraret terram cum exercitu, prima [nocte] quievit ibi, et hoc primum sacrificium fecit deo et beate Marie."

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Mutter Gottes zu stiften. Geweiht wurde er, der ja fast zu gleicher Zeit mit den Domen in Lübeck und Braunschweig errichtet wurde, der Jungfrau Maria und dem Apostel Johannes. Ihre Bilder, vor die Rückwände mit dem byzantinischen Muschelnimbus gestellt, stehen unter dem großen Triumphkreuz als älteste Zeugnisse bildnerischen Schmuckes, den der Dom trotz mancher Plünderung über die Zeiten gerettet hat. Um 1260 mögen sie entstanden sein.

Die Gottesmutter genoß höchste Verehrung. Es ist durchaus möglich, daß der Dom in ältester Zeit nach ihr seinen Namen führte. In einer Urkunde von 1261 wird er "ecclesia sanctae Mariae in Raceburg" 3) genannt. Von 1210 stammt das älteste uns erhaltene Kirchensiegel. Es trägt die Umschrift "SIGILLU SANCTE MARIE VIRGINIS IN RACEBURG +" 4) und zeigt im Bild Maria mit dem Kind. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besitzt der Dom zwei holzgeschnitzte Bildwerke der Madonna, das eine von dem Lübecker Bildschnitzer Johannes Stenrat, etwa 1470, das zweite von dem Lübecker Bildschnitzer und Maler Hans Hesse, etwa 1440 entstanden, dazu eine Pieta von Johannes Stenrat, auch aus der Zeit um 1470 5). Es kann mit Sicherheit angenommen werden, daß die "schöne Madonna" von Hans Hesse den Marienaltar in der (damals noch fensterlosen) Altarnische der Vorhalle zierte. Ihr späteres Schicksal war betrüblich: Entweder bei der großen Domplünderung am 23. Mai 1552 oder zur Reformationszeit zwischen 1564 und 1574 - "nach Abschaffung der Abgötterei in der Domkirche . . ." 6), zur Zeit der Bilderstürmer oder gar spätestens nach 1648, als das letzte Domkapitel eine Neuausstattung des Domes vornahm, sind die Schnitzwerke aus dem Dominnern entfernt worden. Auf den Domböden, im Schulsaal und in der Dombibliothek lagen sie, arg verstümmelt, lange unbeachtet herum. Mit Zustimmung des Oberkirchenrats und des Landesmuseums in Neustrelitz wurden sie im April 1925 von dem damals amtierenden Domprobst für 1500 M an das Museum für Kunst und Gewerbe nach Hamburg verkauft. Für den Erlös dieser "Figurenreste" wurden Glocken für den Dom angeschafft. Am 7. Juli 1966, genau acht Tage vor der Domweihe, konnten wir dank der Freundlichkeit von Frau Prof. Dr. L. L. Möller, Hamburg, eine der beiden Madonnen und die Pietà-Gruppe im Ratzeburger Dom wieder aufstellen. Die "schöne Madonna" von Hans Hesse aus dem Kreise des Meisters der Darsow-Madonna, die beim Luftangriff in der Lübecker Marienkirche verglühte, ist leider noch ausgestellt im Hamburger Museum (Abb. 1). Aber die Hoffnung, daß sie einst den Weg zurück nach Ratzeburg finden wird, bleibt uns. Der Schmerzensmann, ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert, entging dem Schicksal der Veräußerung. Er lag verstümmelt, vergessen und unbeachtet in einem der Turmgeschosse. Jetzt ist er zur Mitte der Gefallenenehrung in der südlichen Nebenapside geworden.

Wir können nicht mit Sicherheit rekonstruieren, wie die Marienkapelle nach der Einführung der Reformation (1564) genutzt wurde. Nach einem Bericht von Uffenheim aus dem Jahre 1709 stand dort "ein verguldeter Wagen, selbiger siehet sehr alt und wunderlich von Form aus". Damit verträgt sich schlecht die Bemerkung im Buch von Notz, Seite 92, wonach dieser "jahrhundertelang ... in des Domes Eingangshalle" gestanden habe. Allenfalls könnte dies für die Zeit nach 1564 zutreffen. Noch 1509 wird unter Bischof Johannes von Parkentin ein Beneficium "am Altar der heil. Maria in dem Eingang der Domkirche" gestiftet 7), und
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3) von Notz, Seite 20.
4) Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Freistaates Meckl.-Strelitz, "Das Land Ratzeburg, Geschichtliche Einleitung", Seite 20.
5) Nordelbingen 7. Band, 1928.
6) Masch, Seite 514.
7) Masch, Seite 380.

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in die Eidesformel der Bischöfe wurde noch 1501 die Verpflichtung aufgenommen, "den Mariendienst aufrecht zu erhalten" 8). Die Marienverehrung stand also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in hoher Blüte. Es ist nicht denkbar, daß ein Kultraum wie die Marienkapelle durch die Abstellung eines "verguldeten Wagens" entweiht wurde, selbst wenn dieser "für Prozessionen, Umzüge oder auch zur Einholung der Bischöfe" verwendet worden sein dürfte.
 



Abb. 1
 

Im Buch "Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Freistaates Mecklenburg-Strelitz", dessen Teil "Der Dom zu Ratzeburg" Prof. D. Dr. Richard Haupt bearbeitete, finden wir auf Seite 55 eine Aufnahme der Staatlichen Bildstelle Berlin von der Südseite des Domes vor 1874 (Abb. 2). An dieser soll uns jetzt nur die Ansicht des Vorhallengiebels interessieren. Sie zeigt unter dem prachtvollen Giebeldreieck zwei Portale. Das vom Beschauer linke (westliche) sitzt in einer etwa 15 cm vorspringenden, aus dem Sockel hochgezogenen Mauervorlage. Deren Randprofile sind die umgebrochenen Sockelprofile. Das rechte (östliche) Portal hat weder die Wandverdickung nach außen, noch das umlaufende Randprofil. Im Grundriß sitzt es nicht in einem Wandfeld, das wie beim Westportal, wegen der Türleibung und
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8) von Notz, Seite 21.
 

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Abb. 2
Foto: Staatliche Bildstelle Berlin (1874)
 

Das zweite Portal in der Südvorhalle ist nicht original, es wurde im Jahre 1835 zur Unterstellung der Feuerspritze eingebrochen und bei der Restaurierung von 1876-81 wieder entfernt.
 

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wie bei der ins Mauerwerk eingearbeiteten Apsisnische um über 30 cm nach innen vorgezogen ist. Es hat die gleiche Wanddicke wie die beiden Felder der Westfront und das südliche Feld der Ostfront von etwa 1,20 m, kann also ursprünglich nicht für den notwendig tiefen Anschlag von Portaltorflügeln gedacht gewesen sein.

Ich habe mich lange gegen diese Erkenntnis und die daraus abzuleitende Schlußfolgerung gesträubt, daß wir es hier nicht mit einem "Paradies" mit zwei offenen Portalen zu tun haben, und daß aus diesem Grunde dieses rechte Portal nicht ursprünglich sein könne. Eine unerwartete Entdeckung im Domarchiv vor Jahresfrist bestätigte aber diese Vermutung.

Bei den fast sechs Jahre währenden Restaurierungsarbeiten im Dominnern konnten wir leider nicht auf Bauakten aus älterer Zeit zurückgreifen. In den Dom-Archivbeständen in Ratzeburg war davon nichts vorhanden. Und wir mußten uns mit der wohl zutreffenden Vermutung zufrieden geben, daß solche Unterlagen vor dem zweiten Weltkrieg nach Schwerin oder in das Landesarchiv nach Neustrelitz abgegeben wurden. Um so erfreuter waren wir, wenn uns eigene Nachforschungen zu klärenden Erkenntnissen verhalfen. Vor Jahresfrist, am 7. März, entdeckte ich in den Archivbeständen eine gebündelte Akte über die "Domfeuerspritze". Daß sich dabei auch einiges fand, was mir zur Aufhellung über die "Vorhalle" verhalf, war wohl nicht zu erwarten, traf aber zu.

Einen mit "Bau-Mängel" überschriebenen "Anschlag über Materialien u. Kosten" vom Februar 1835 legt Maurermeister A. Spolert, "Domhof bey Ratzeburg, zur Einrichtung eines Lokals, für der Feuersprütze an der Domkirche, welche VORN in den Materialien-Magazin, am Eingang in der Kirche stehen soll" . . . vor. "Durch der Maßiven Mauer, welche 3 Fuß stark ist, eine 2flügeligte Thür anzubringen mit Oberfenster" heißt es darin u. a. Es folgen Beschreibung und Veranschlagung von zusätzlichen Arbeiten des Zimmermanns wie "Bretterverschläge wegzunehmen und an einer andern Stelle aufzusetzen, an der Eingangsthür, in der Kirche, ist eine Holzwand mit Fachwerk hinzusetzen, . . . nach der Ostseite den Fußboden neu zu legen, und 1 1/2 Fuß zu verhöhen wegen der Ausfahrt." Etwas deutlicher werden Befund und geplante Bauarbeiten beschrieben in einem "Actum auf dem Domhofe in Großherzoglicher Consistorial-Commission des Fürstenthums Ratzeburg, den 19. August 1835 in Gegenwart: des Herrn Probst Genzken und des Herrn Gerichts-Raths Dr. Karsten." Zusammen mit Steuer-Commissair Wentzel wurde "zum Zweck der Einnahme des Augenscheins wegen der bereits reparirten, bei der Domkirche befindlichen Feuerspritze und der damit in Verbindung stehenden Feuerlöschungs-Anstalten .. ." ein Ortstermin abgehalten. Man hatte sich überzeugt, "daß der jetzige Aufbewahrungsort der Feuerspritze der Bestimmung derselben ganz unangemessen und ihrer Translocation in die Materialien-Kammer der Kirche neben der Kirchenthüre unumgänglich sey, wobei das große Kirchenfenster zur Einrichtung einer Thür zu benutzen, und auf solche Weise diese Einrichtung mit einem Aufwände von etwa 70 bis 80 Rthl errichtet werden mögte." Vom 29. Januar 1836 ist diesem Vorgange ein Promemoria, nach unserem Sprachgebrauch ein Aktenvermerk, beigefügt, den Domprobst Genzken angefertigt und unterschrieben hat. Darin wird abschließend bestätigt, daß "das zur Aufbewahrung der Domfeuerspritze neu eingerichtete Local vollendet" und die völlig instandgesetzte Spritze dorthin geschafft worden sei. Alles wurde in guter Ordnung vorgefunden.

Aus der Marienkapelle von 1220 war also eine Materialienkammer 9) geworden, die zudem durch Bretterverschläge unterteilt gewesen sein muß. Etwa im letzten Drittel des Jahres 1835 wurde das zweite Portal eingebrochen, durch eine hölzerne Fachwerkwand auf die Mittelsäule zu die Vorhalle unterteilt und ein Holzfußboden mit Gefälle nach außen angelegt. Jetzt blieb der Westteil mit altem
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9) Chronik der Stadt Ratzeburg, Seite 87: ". . . In die südliche Vorhalle führten z. B. zwei ungleich hohe und breite Pforten nebeneinander und ein Teil der Marienkapelle war zur Rumpelkammer eingerichtet, in welcher unter anderm ein alter vergoldeter Wagen gestanden hatte . . ."

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Portal Durchgang zum Dom, der Ostteil wurde zum "Local" für die Domfeuerspritze abgewertet. Von dieser Veränderung, die sich bis zur Restaurierung von 1876-81 erhalten hatte, war ich vor Jahren durch Domküster Moldenhauer unterrichtet worden, der von seinem Amtsvorgänger d'Ottilie davon erfahren hatte. Aber verläßliche Nachrichten waren unbekannt. In keinem der bau- und kunstgeschichtlichen Werke über den Ratzeburger Dom ist darüber etwas zu finden. Nur Architekt J. F. Lauenburg, Hamburg, teilt im Anhang zu G. M. C. Masch: "Geschichte des Bisthums Ratzeburg", Lübeck 1835, einiges, was hier interessiert und was bisher wohl übersehen wurde, auf Seite 748 mit. Nach seiner Überzeugung scheint der Dom "in seiner ursprünglichen Gestalt bis zum Anfang des 15. Sec. erhalten worden zu seyn; da erlitt die Kirche jenen bedeutenden Umbau, dem sie ihre heutige Form verdankt". Er meint damit die Anlage von Seitenkapellen nach Nord und Süd wie wohl gleichzeitig beim Lübecker Dom: "Man durchbrach die äußern Wände der Seitenschiffe so stark, als es eben der alte Bau gestattete, und fügte diesen Oeffnungen die verlangten Capellenartigen Räume hinzu; die Seitenbegränzung der Kirche wurde also hinaus gerückt und die alte Seitenmauer durch die Dachung der Capellen versteckt... In die Zeit dieses Umbaues fällt aller Wahrscheinlichkeit nach die Erbauung des Thurmes, die Anlage des großen Fensters am westlichen Ende der Kirche, das Fenster in der südlichen Eingangshalle und die Vergrößerung der Schlußcapelle der Seitenschiffe. - Der südliche Arm des Kreuzes verlor durch Einbrechung eines großen spitzbogigen Fensters, anstatt zweier durch Rundbogen geschloßener Fenster, (am nördl. Kreuzesarm sind sie erhalten,) . . . seine ursprüngliche Form ..." Zum Glück berichtete uns Architekt Lauenburg vor 1835. Er kannte also noch den Zustand, bevor Ende 1835 das zweite Portal für die Feuerspritze eingebrochen wurde.

Über einen dritten Beleg, wie die Südwand der "Vorhalle" vor 1835 aussah, unterrichtete mich Domprobst Dr. Groß am 14. 8. 68. Es existiert ein Modell des Domes aus dem Jahr 1833. Vermutlich befindet es sich heute in Schwerin oder Neustrelitz. Der Verfasser der kleinen, aber sehr inhalt- und aufschlußreichen Schrift von 1932, Ferdinand von Notz, hat dieses Modell gekannt und von ihm am 10. 5. 1933 einfache Handskizzen angefertigt, die sich in seinem Nachlaß fanden (Abb. 3). Über der Südansicht des Domes mit der Vorhalle steht sein hand-
 



Abb. 3
 

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schriftlicher Vermerk: "S: Vorkapelle 10): nur 1 gr. rom. Portal! Daneben ein gr. plumpes Rundbogenfenster." Überschrift zu den Skizzen: "Nach dem Neustrelitzer Dom Model v. 1833 (von Reiche) 11), Neustrelitz 10. 5. 1933. von Notz."

Einen vierten Beleg liefert uns der bei Richard Haupt in seinem Buch "Die ältesten Dome und ihre Anfänge im Bereiche der deutschen Nordmark", 1936, Westholsteinische Verlagsanstalt, Heide in Holstein, auf Seite 31 gezeigte Grundriß (Abb. 4). Haupt hat ihn wohl schon früher (1925) im 6. Band seines Werkes über: "Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Schleswig-Holstein bzw. Geschichte und Art der Baukunst in Nordelbingen", Heide in Holstein, 1925, veröffentlicht. Von dort übernahm ihn von Notz in sein Buch "Der Dom zu Ratzeburg", Ratzeburg 1932, Seite 12, mit der Unterschrift "Grundriß des Domes vor dem Umbau um 1880 (aus Haupt, 6. Bd.)". Dieser Grundriß zeigt den Bauzustand des Domes, wie er vom Beginn des 15. Jahrhunderts an bis zum Einbruch des zweiten Portals in die Vorhalle (1835) bestanden hat! Die hier dargestellte Mauerwerköffnung ist NICHT das zweite Portal, sondern das "große plumpe Rundbogenfenster", das von Notz nach dem Modell von Reiche skizziert hat und das hier, wie es bei Fensteröffnungen im Grundriß üblich ist, mit den oberhalb der Schnittlinie in der Waagerechten verlaufenden Profillinien - hier der "plumpe" Spitzbogen - dargestellt ist. Das links danebenliegende echte Portal wie alle bis zum Fußboden offenen Tür-, Tor- und Mauerwerköffnungen bleibt auch in diesem Grundriß offen. Es ist für mich kein Zweifel, daß von Reiche sein Dommodell im Jahre 1833 nach diesem Grundriß angefertigt hat. Er zeigt die Fünfschiffigkeit, die durch den Anbau der Seitenkapellen nach N und S entstanden war, aber auch, daß die Apsisnische in der Vorhalle noch kein Fenster hatte, während man zur Sakristei noch durch das alte, von uns im Jahre 1963 wieder freigelegte romanische Portal von der nördlichen Nebenapside aus ging, das Daniel zumauern, dafür aber einen Zugang vom nördlichen Querhausquadrat einbrechen ließ. Den haben wir dann wieder zugemauert und mit einer großen Grabplatte verschlossen!

Die baulichen Veränderungen auf der Südseite des Domes, die ja seine Schauseite ist, sollen nun kurz zusammengefaßt werden: Nachdem die Marienkapelle (Vorhalle) um 1220 vollendet war, begann nach etwa 150 Jahren um 1370/80 unter Bischof Heinrich von Wittorp der Bau der Katharinenkapelle 12) durch Herzog Erich von Sachsen, die spätere Grabkapelle der Lauenburger Herzöge, darum auch "Lauenburger Chorkapelle" genannt. Sie erhielt zwei große, gedrückt spitzbogige, dreiteilige gotische Fenster. Kurz darauf, wohl ab 1401, wurden die beiden Reihen der Seitenschiffkapellen nach Nord und Süd angelegt und deren breite Fensteröffnungen mit Segmentbögen geschlossen. In der Oberwand des Querhauses saß ursprünglich ein schlankes romanisches Fensterpaar, das den im Obergaden nach Nord und Süd und den im Querhaus sitzenden glich. Jetzt folgte man dem Gestaltungswillen der gotischen Zeit, die an der Südfront der romanischen Gotteshäuser gern die Fenster vergrößerte und vermehrte: Man schuf ein großes, stumpfspitzbogiges, plumpes fünfteiliges Fenster, das ebenso breit war wie die beiden ursprünglichen zusammen, und führte es über die Zone des waagerechten Kreuzbogenfrieses bis in den Fries der Stromschichten hinein. Von ähnlicher Art, maßstäblich natürlich kleiner, mag "das große, plumpe Rundbogenfenster" gewe-
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10) Es ist nicht mit letzter Sicherheit anzugeben, ob es hier "Vor . ." oder "Mar . ." (Marien)kapelle heißt.
11) In der "Chronik der Sadt Ratzeburg" von Prof. Dr. L. Hellwig, Lauenburgischer Heimatverlag Ratzeburg, 1929, sind drei Namensträger von Reiche angegeben. Wer von diesen der "Modellerbauer" ist, bleibt unerwähnt. Es ist jedoch anzunehmen, daß es der Stadthauptmann J. G. G. E. von Reiche gewesen ist, den die Chronik auf Seite 63 in anderem Zusammenhang "den talentvollen und stets spöttelnden, vielseitig gebildeten, aber allzu selbstbewußten, damaligen Ratzeburger Stadthauptmann von Reiche" nennt.
12) Masch, Seite 282.

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sen sein, das in die Südwand der Vorhalle eingebrochen wurde, und das in dem Dommodell von 1833 auf der Skizze von Notz zu erkennen ist.

Fast zu gleicher Zeit wie in Ratzeburg begann der dritte Bau für den Dom in Roskilde, Dänemark, auch er in Backstein. Er wird um 1300 bis zum Westende vollendet worden sein. Später bekam er mehrere Kapellenanbauten für Heilige
 



Abb. 4
Grundriß des Domes vor dem Umbau um 1880
(aus Haupt, 6. Bd.)

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und vier Könige, zuletzt die schöne Vorhalle für den im Jahre 1485 verstorbenen Bischof Oluf Mortensen in norddeutscher Gotik. Der reichgegliederte Giebel könnte sein Vorbild an profaner Backsteinarchitektur etwa in Brandenburg oder Neubrandenburg haben, der Unterbau dagegen an der Ratzeburger Vorhalle, nachdem sie ihr großes gotisches Fenster bekommen hatte. Die Seiten sind vertauscht: das weniger aufwendige Portal sitzt rechts, das Fenster links oben. Das umlaufende Gesimsprofil ist aus der Sockelzone bis zu einer Höhe von etwa 3 m emporgehoben und nun gleichzeitig Fenstersims geworden. Aber es umläuft auch das Portal, das, wohl nicht so tief eingestuft wie das Ratzeburger, doch im Innern und in der Tiefe rund, also noch romanisch, geschlossen ist - Zugeständnis an das Vorbild in Ratzeburg? -, während es in der Ebene der Vorhallenvorderfläche, der Zeit folgend, spitzbogig überwölbt ist. Die Blende zwischen Spitz- und Rundbogen ist geputzt. Als ich am 22. 6. 68 vor dieser Vorhalle stand, sah ich das Vorbild Ratzeburg ganz deutlich vor mir (Abb. 5).
 



Abb. 5
Oluf Mortensens Vorhalle
Aus: Der Dom zu Roskilde
 

Bei der von Oberbaurat Daniel geleiteten und von Landbaumeister Fr. W. J. Rickmann durchgeführten Restaurierung der Jahre 1876 bis 1881 wurde die Mehrzahl der ab 1401 vorgenommenen Veränderungen wieder rückgängig gemacht: die kapellenartigen Vorbauten wurden abgebrochen, die Seitenschiffwände wieder an alter Stelle geschlossen - die Lauenburger Kapelle blieb auf nachdrücklichen Wunsch von Kaiser Wilhelm I. erhalten -, das große gotische Fenster im Giebel des Querhauses wieder entfernt und das frühere romanische Fensterpaar wieder angelegt. Auch das zweite Portal in der Giebelwand der Vorhalle verschwand wieder und mit ihm die Holztrennwände im Innern der Vorhalle. Leider hat Daniel nun die Wand nicht zugemauert, sondern ihr in neuem roten Maschinen-

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strichstein ein kleines romanisches Fensterpaar mit umlaufendem Wulstprofil eingefügt, wie es sich in den beiden westlichen Wandfeldern erhalten hat. Diese Lösung ist nach meinem Gefühl nicht tragbar. Abgesehen davon ist sie bautechnisch so unglücklich durchgeführt worden, daß das reiche Horizontalgesims an dieser Stelle mit seinen beiden Stromschichten und dem Kreuzbogenfries erheblich nachgesackt ist. Bei der Aufnahme der Staatlichen Bildstelle Berlin mit den beiden Portalen zeigen sich diese Gesimsversackungen noch nicht.

Der sehr feinfühlige Baumeister, der dieses Schmuckstück Marienkapelle als "ein durchgestaltetes Kunstwerk" (Kamphausen) unserem Dom um 1220 anfügte, hat seine sechs kleinen Fenster in drei Fensterpaaren ziemlich hochsitzend - die innere schräge Fensterbrüstung liegt etwa 3,50 m über dem Fußboden - in sehr bescheidenen, also noch streng romanischen Abmessungen angeordnet, zwei Paare an der Westfront, ein Paar im Osten. Die Apsis hatte ursprünglich kein Fenster. Das wurde auch erst unter Daniel eingebrochen. Das beherrschende Gestaltungsmotiv für ihn waren das Portal mit der äußeren Mauervorlage und umlaufendem Randprofil - wegen der Mittelsäule im Innern mußte der Eingang ja exmittig, d. h. außerhalb der Mittelachse, aber in der Achse des inneren Domportals sitzen - und das überreich geschmückte Giebeldreieck mit der Blendrose, den dreiseitig umlaufenden Zierfriesen, den halbrunden Lisenen und dem Mauergrund im Ährenverband. Zum Giebel sollte der Blick geführt, nicht zu einem Fensterpaar abgelenkt werden, das in der Wand sehr ungünstig sitzt: das horizontale Randprofil über dem Portal schneidet in seiner optischen Verlängerung mitten in das Fensterpaar, andererseits schneidet die Fensterbasislinie, nach links verlängert, in das Portalhalbrund. Diese fatalen Überschneidungen werden besonders deutlich, wenn man sich der Vorhalle von halbrechts oder halblinks nähert. Man unterschätze nicht den Mut des alten Baumeisters, der es wagte, in der "Urfassung" neben dem einseitig angeordneten Portal eine glatte Wandfläche zu zeigen und erst im architektonisch so reich gegliederten Giebeldreieck die ausgewogene Symmetrie der spröden backsteinernen Formenelemente zur vollen Harmonie zu bringen. Ich habe mich seit Jahren mit diesem gestalterischen Motiv der zurückhaltenden Portalwand im Untergeschoß und dem bekrönenden Schmuckgiebel beschäftigt und finde keine bessere Lösung, als das Fensterpaar auch außen zuzumauern, so wie wir es im Oktober 1966 nach mündlicher Zustimmung von Landeskonservator Dr. Beseler schon im Innern geschlossen haben. Wir müssen den Mut aufbringen, auch hier eine für die Gesamthaltung entscheidend wichtige Wiederherstellung des Ursprünglichen vorzunehmen. Um so stärker wird der dann gewonnene Eindruck auf uns wirken, wir werden überrascht feststellen, daß damit "eine bisher unerkannte Monumentalität" im Vorhallengiebel durchbricht. So ähnlich nannte ein von mir in seinem Urteil geschätzter Fachkollege seinen Eindruck, als ich ihn vor kurzem an Ort und Stelle von meiner Absicht unterrichtete. Wir sollten uns außerdem von dem "horror vacui", der Scheu vor der Leere, freimachen, uns aber gleichzeitig darüber klar werden, daß unser Auge sich an unschöne architektonische Veränderungen leider gewöhnt, ohne kritisch zu prüfen, zumal, wenn solche, wie in unserem Falle, schon fast 90 Jahre alt sind. Ähnlich erging es uns, als wir im Jahre 1958 die zweigeschossige Uhrarchitektur entfernten, die Daniel im Jahre 1895 nach dem Dombrande "in den südlichen Querschiffgiebel, der KAHL UND LEER (!) eine reichere Ausstattung ... sehr wohl vertragen kann" 13), einfügte.

Es gibt einige bevorzugte Standpunkte, von denen aus man eine örtliche Überprüfung anstellen sollte: 1. Blick vom Palmberg, wobei der rechte große Tor-
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13) Aus dem "Vorwort zum Materialien- und Kostenanschlag zur Wiederherstellung des im Jahre 1893 durch Brand beschädigten Domes zu Ratzeburg".

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Abb. 6a-d
4 Fotos: Wohlfahrt, Ratzeburg


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pfeiler das Fensterpaar zudeckt (Abb. 6a). 2. Blick an der Grenzlinie Kreismuseum-Domprobstei an dem Verbotsschild auf dem Fußweg zum Patschengang. Hier übernimmt der Sockel des Löwendenkmals die das Fensterpaar zudeckende Aufgabe (Abb. 6b). 3. Am Ausgang von der Domprobstei zur nördlichen Rampenanfahrt, und zwar beim (nicht vollständigen) Durchblick auf den Vorhallengiebel zwischen hinterer Kante des Kreismuseums und vorderer Giebelschräge des Organistenhauses. 4. Auf dem Domkirchhof von SO, wobei das immergrüne Buschwerk der schönen Taxusgruppe die Fenster verdeckt (Abb. 6c). 5. Schaut man sich den Giebel unter ganz flachem Winkel von rechts oder links an, so wird die oben genannte überschneidende Wirkung von Fensterbasis- bzw. Randprofillinie des umlaufenden Portalgesimses besonders deutlich und beklemmend erkennbar (Abb. 6d).

Man wird fragen, warum wir nicht, als wir die Fenster innen zumauerten, sie auch gleich außen geschlossen haben. Die Frage ist berechtigt, und wir hätten dann heute schon die volle Wirkung des Äußeren. Diese Frage stellte mir auch s. Zt. Domprobst Dr. Groß, mein Bauherr. Ich erklärte ihm, daß wir keine Mittel mehr hätten, da die Restaurierung von Sakristei und Vorhalle nicht gesondert ins Bauprogramm aufgenommen worden war, sondern mit bescheidenen Restmitteln begonnen, dann aber gestoppt werden mußte. Die Fenster sind innen nur stumpf zugemauert worden. Dafür hatten wir noch eine Anzahl guter alter Handstrichsteine. Außen hätten wir, auch zum Ersatz der roten Maschinenstrichsteine in, unter und neben der Fensterzone gute alte gelbliche Steine gebraucht. Die stehen uns aus den inneren Turmwänden und aus den Innenwandflächen des Obergadens unter den Seitenschiffdächern in genügend großer Zahl und Güte zur Verfügung. Man braucht sie dort nur durch neue in gleichen Abmessungen zu ersetzen. Die entscheidende BAUTECHNISCHE Schwierigkeit, der wir uns gegenüber sahen, war jedoch die beklagenswerte mangelhafte Standsicherheit des Giebeldreiecks. Bei einem Blick von der Seite erkennt man mit erschreckender Deutlichkeit, wie die Giebelspitze um mehr als 25 cm überhängt, und wie sich die Basislinie mit Stromschichten und Kreuzbogenfries beträchtlich nach außen gedrückt hat. Jede Stemmarbeit am Mauerwerk in der Gefahrenzone verbot sich ganz zwangsläufig. Ein von mir noch während meiner Amtstätigkeit erbetenes Gutachten über die Maßnahmen zur Sicherung der gefährdeten Standfestigkeit wurde mir erst nach meinem Ausscheiden aus dem Dienst zugestellt. Ich unterrichtete davon das Kultusministerium und auf seinen Wunsch den Landeskonservator. Ob für diese dringenden Sicherungsmaßnahmen - Einbau eines Stahlbeton-Ringbalkens, Abbruch des gerissenen Hintermauerungswerks und dessen sorgsame Wiederaufmauerung mit Verankerung zum äußeren Verblendmauerwerk in Verbindung mit einer Stahlkorsett-Konstruktion - Mittel bereitgestellt wurden und wann das Landesbauamt die Arbeiten durchführen wird, ist mir, weil ich davon nicht unterrichtet werde, unbekannt.

Zum Abschluß seien noch einige Bemerkungen über die Nutzung der Vorhalle nach der Restaurierung von 1876/81 erlaubt. Rickmann spricht in seinem Buch auf Seite 57: ,,. . . Eine etwas abweichende Behandlung hat die südliche Eingangscapelle erfahren. Da sich hier, namentlich in der Mittelsäule, grünglasierte Steine vorfanden, ist bei der Decoration dieses Raumes die grüne Farbe mehr zur Geltung gelangt, und wo die alten grünglasierten Steine nicht mehr vorhanden waren, ist diese Glasur durch Farbe ersetzt worden. Sämtliche Malereien sind nach Angabe des Bauraths Daniel von dem Maler Rieckhoff in Ratzeburg ausgeführt worden."

Der Raum war recht farbig angestrichen, Gurtbögen und Gewölbegrate bekamen Schablonenmalerei, die Pfeilervorlagen, Portal-, Apsis- und Fensterrahmen
 

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waren im Farbwechsel grün und gelb bzw. durchgehend rot gestrichen, die Fugen, auch auf den Wandflächen, aufgemalt. Wohl war dem Raum das Odium der "Materialienkammer" genommen, aber ein Kultraum war es nicht wieder geworden. Was sollte man mit ihm in den Jahren des "dunklen Zeitalters" anfangen? Man stellte den Abguß des Braunschweiger Löwenstandbildes, den Großherzogin Auguste-Karoline, eine englische Prinzessin, dem Dom zur Wiedereinweihung im Jahre 1882 und "zu Ehren und zum Andenken an ihren großen Ahnherrn Heinrich den Löwen, den Stifter des Bistums und Erbauer des Domes" geschenkt hatte, in ihm auf. Sinnigerweise stand er mit dem Hinterteil vor der Apsisnische und ließ sich dieses durch das Sonnenlicht bescheinen, das durch das eben erst neu eingebrochene Apsisfenster hereinstrahlte! Man hatte jedes Wissen um sakrale Würde und Aussagekraft verloren, sonst hätte man nicht gerade ein Löwenstandbild in einen Kultraum gestellt, der vordem die Marienkapelle war. Wir besitzen noch Aufnahmen von Dr. Stoedner, Berlin, in den Büchern von Stiehl bzw. Kamphausen. Bei der ersten verdeckt die Mittelsäule das Vorderteil des Vierbeiners, und neben ihr sieht man noch einen Teil des inneren Kastenflügels vom spätgotischen Wandelaltar, der, auf dem Fußboden abgestellt, sich gegen die Wand lehnt. Bei der anderen blicken wir in die SO-Ecke des Raumes, sehen vor der Wand, in der kurz zuvor noch das Pseudo-Portal des "Feuerspritzen-Locals" saß, eine Sargtragbahre und sechs Sargleuchter stehen.

Bis zum Jahre 1903 blieb der Löwe in der Vorhalle. Dann gab man ihm den neuen Platz in der Mitte der südlichen Friedhofsmauer. Die Eingangshalle wurde nun für den Gottesdienst im Winter "mehr schlecht wie recht" 14) hergerichtet.

Für die 800-Jahr-Feier der Grundsteinlegung (11. 8. 1154), also am 11. August 1954, hatten wir vom Lübecker Landesbauamt in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalspflege, Leitung Landeskonservator Dr. Peter Hirschfeld, ein kleines Bauprogramm zusammengestellt. Es sah u. a. vor die Herabzonung der oberen, im Jahre 1895 nach dem Dombrand vom 19. August 1893 aufgebrachten, über 1 m hohen Friesaufmauerung, die Wiedererrichtung des Dachreiters auf der Vierung, seine und des Turmdaches Eindeckung mit Kupfer, vor allem aber die Restaurierung der Vorhalle als Vorstudie zur kommenden großen Restaurierung des Dominnern. Was wir da auf gegebene Weisung durch die "hauchdünne Kalkschlämmung" der Pfeilervorlagen und Wandfelder getan haben, hat sich leider als Irrtum erwiesen. Wenn man altes Backsteinmauerwerk kräftig schlämmt, ist es nicht zu schwer, diese Schlämme mechanisch und durch Säure bzw. Lauge nach Belieben später wieder zu entfernen. Oft platzt sie von selbst wieder ab (z. B. Marienkirche in Lübeck nach dem Luftangriff und Brand vom März 1942). Eine hauchdünne Kalkung aber geht mit der Backsteinoberfläche eine chemische Verbindung (Calciumhydroxyd) ein. Unter Aufnahme von Kohlensäure wird der andauernde Prozeß in der hauchdünnen Schlämmschicht verdichtet.

Wir haben nach dem Abschluß der Domrestaurierung und bis zu meinem Ausscheiden aus dem Dienst verschiedene Versuche mit Säuren und Laugen vorgenommen. Dank dem guten Rat von Bildhauer Harry Egler und in Verbindung mit Malermeister Heinrich Liebe, beide in Bad Oldesloe, haben wir zwei Probestreifen für die Entfernung der "hochdünnen" Kalkschlämme angelegt, die sich bis heute ausgezeichnet frisch gehalten haben und als voll gelungen bezeichnet werden müssen. Sie werden uns helfen, die hoffentlich bald durchzuführende Freilegung und Ausbesserung des Backsteinmauerwerks auch in der Eingangshalle zu
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14) von Notz, Seite 67.

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beenden. Seit Beginn des kalten Wetters kann diese als Kultraum für Morgen- und Abendandachten nicht genutzt werden. Wegen der Umstellung auf Erdgas sind die drei Gasheizkörper nicht mehr zu benutzen. Ob ihr Umbau möglich und wirtschaftlich ist, muß noch überprüft werden.

Literaturnachweis

1. Das "Ratzeburger Zehntregister" von 1230 ("Register der von den Bischöfen von Ratzeburg verliehenen Zehnten") aus Mecklenburgisches Urkundenbuch, (M.U.-B) I. Band, 786-1250, Schwerin 1863.
2. G. M. C. Masch: "Geschichte des Bisthums Ratzeburg", Lübeck, Friedrich Asschenfeldt, 1835.
3. Fr. W. J. Rickmann: "Die Domkirche zu Ratzeburg", Ratzeburg, Verlag von Max Schmidt, 1881.
4. Stiehl, Otto: "Backsteinbauten in Norddeutschland und Dänemark", Stuttgart 1923.
5. Haupt, Richard: "Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Schleswig-Holstein bzw. Geschichte und Art der Baukunst in Nordelbingen", Heide in Holstein 1925.
6. von Notz, Ferdinand: "Der Dom zu Ratzeburg", Ratzeburg 1932.
7. Hellwig, L.: "Chronik der Stadt Ratzeburg", Lauenburgischer Heimatverlag, Ratzeburg 1929.
8. Haupt, Richard: "Der Dom zu Ratzeburg" in "Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Freistaates Mecklenburg-Strelitz", bearbeitet von Georg Krüger, Neubrandenburg 1934.
9. Haupt, Richard: "Die ältesten Dome und ihre Anfänge im Bereiche der deutschen Nordmark", Westholsteinische Verlagsanstalt Heide in Holstein 1936.
10. Schreiber, Hans Henning: "Der Dom zu Ratzeburg, acht Jahrhunderte", Ratzeburg 1954.
11. Kamphausen, Alfred: "Der Ratzeburger Dom", Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co., Heide in Holstein, 1954 und 1966.
12. F. Mollers und Sv. Pedersen, Roskilde: "Der Dom zu Roskilde", Flensborg Verlag, Roskilde 1966.