Georg Christian Friedrich Lisch:
Die alten Chorstühle des Domes zu Ratzeburg (1864)



III. Zur Kunstgeschichte.

Die alten Chorstühle des Domes zu Ratzeburg

Der Dom zu Ratzeburg besitzt noch Ueberreste von alten, aus Eichenholz geschnitzten Chorstühlen, welche die höchste Beachtung verdienen, wenn auch die Stühle nicht mehr vollständig erhalten sind.


1. Die romanischen Chorstühle.


Der Dom besitzt noch zahlreiche Ueberreste von Chorstühlen romanischen Styls von ungewöhnlicher Schönheit, welche zu den größten Seltenheiten des christlichen Europas gehören. Es sind von den Stühlen nur noch die geschnitzten Seitenstücke vorhanden, die Sitzklappen und Rückwände aber längst verschwunden. Jedes Seitenstück ist unterhalb der Sitzklappe vorne mit zwei kleinen romanischen Säulen, welche alle verschieden sind, verziert; das Ende oberhalb der Sitzklappen, welches nicht höher ist, als das untere Ende, ist ausgeschweift, oben mit einem Wulst bedeckt und mit geschnitzten romanischen Rosetten und Blumen verziert. Diese Chorstühle stammen sicher aus der Zeit der

211
212

Erbauung des Domes, des ältesten Bauwerkes in Meklenburg, also aus der ZWEITEN HÄLFTE DES 12. JAHRHUNDERTS. Wenn die jetzt noch stehende Domkirche auch sicher nicht aus der Zeit der STIFTUNG des Bisthums (1154) stammt, sondern der letzten romanischen Bauperiode angehört, so möchte ich die Vollendung der Kirche doch noch in das ENDE DES 12. JAHRHUNDERTS setzen, da sie noch ganz im romanischen Baustyl durchgeführt ist, abgesehen von den Hauptgewölben, welche sicher viel jünger sind. Jedenfalls gehört die Kirche noch ganz der ROMANISCHEN BAUPERIODE an, und eben so alt sind sicher und wenigstens die romanischen Chorstühle, welche auf den ersten Blick sowohl nach dem Styl, als nach ihrem ganzen Ansehen ein sehr hohes Alter verrathen. Sollte man dem Domgebäude mit zwingenden Gründen ein etwas jüngeres Alter aufdringen können, so möchte ich diese Chorstühle grade nicht für jünger halten. Es wäre doch möglich, daß sie nach Vollendung des jetzt stehenden Doms aus der S. Georgenkirche von Ratzeburg, wo im Anfange des Bisthums der Bischofsitz war, in den Dom versetzt wären.

Wenn ich nun gesagt habe, daß diese Chorstühle noch vorhanden sind, so meine ich nicht, daß sie noch als vollständige Chorstühle existiren, wie sie in Lenoir Architecture monaslique, Paris, 1856, und in Gailhabaud *)




Gravierte Chorstuhl-Abbildung im Ratzeburg-
Kapitel der Publikation von Jules Gailhabaud
von 1858, nicht bei Lisch reproduziert!


und zuletzt von CH. RIGGENBACH: († 1863) "Die Chorstühle des Mittelalters" in den Mittheilungen der k. k. Central=Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Wien, 1863, August, S. 218, ziemlich gut abgebildet sind: sie sind nur noch in Bruchstücken vorhanden. Man hat diesen seltenen Kunstwerken sehr übel mitgespielt, wahrscheinlich im J. 1648, indem man die Stühle auseinanderriß und nur die verzierten Seitenstücke erhielt. Diese Seitenstücke wurden aber in der Mitte auseinander gesägt und die Stücke zu Füßen für Sitzbänke untergeordneten Ranges benutzt. Am Westende des Mittelschiffes stehen 3 offene Bänke für arme Leute mit diesen alten Füßen; die übrigen finden sich unter mehreren Bänken im nördlichen Seitenschiffe befestigt. Im Ganzen waren im October 1859 noch 10 untere Hälften und 12 obere Hälften von den alten Seitenstücken als Bankfüße im Dome vorhanden. Es ist allerdings ein dringendes Bedürfniß für die Culturgeschichte, daß diese merkwürdigen Reste des Alterthums wieder zusammengebracht und anständiger und sicherer aufbewahrt werden, wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß man die Erhaltung dieser Reliquien sicher nur der untergeordneten Verwendung beim Abbruch der Stühle verdankt.

212
213


2. Der altgothische Chorstuhl.


An der Südwand des hohen Chores steht ein alter Stuhl mit drei Sitzen, in welchem ebenfalls noch alte Ueberreste verborgen sind. Dieser Chorstuhl ist, ebenfalls um das Jahr 1648, aus verschiedenen Bruchstücken zusammengebracht. Die Sitze und die Rückwand sind jung. Der ungleich dreifach getheilte Baldachin stammt aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die Seitenstücke sind aber alt. Diese bestehen aus zwei verschiedenen Theilen. Die beiden viereckigen, oblongen Seitenplanken sind alt und gehören sicher zusammen; die darauf genagelten Giebel sind freilich auch alt, gehören aber nicht zu den viereckigen Seitenplanken, sondern sind von andern Seitenstücken abgesägt und auf diese Seitenplanken genagelt. Von diesen Ueberresten sind die beiden zusammengehörenden Seitenplanken allein von Wichtigkeit. Unten ist von denselben auch schon ein Ende, vielleicht so lang als die Sitzhöhe, abgesägt, der obere verzierte Theil ist aber noch vollständig erhalten. Diese viereckigen Seitenstücke sind jetzt noch gegen 6 Fuß hoch und gegen 2 Fuß breit und an den Außenseiten mit Schnitzwerk bedeckt. Die eine Seitenwand stellt die WURZEL JESSE in Weinlaub, die andere einen Bischof unter den Wurzeln eines EICHBAUMS dar, das Ganze also die Entwickelung des CHRISTENTHUMS und der KIRCHE in sehr sinniger Anordnung.

Die eine Seitenwand stellt die WURZEL JESSE dar (nach Jes. 11, 1, Matth. 1, 6  u. s. w.) und ist bereits in dem französischen Werke: "Le moyen age monumental et ..archéologique" abgebildet. Auf einem Bette liegt ISAI, auf dessen Brust ein WEINSTOCK wurzelt, dessn zwei Hauptreben sich zu drei ELLIPTISCHEN Medaillons verschlingen, in denen übereinander die drei Hauptpersonen des Stammbaums stehen: unten DAVID mit Krone, Reichsapfel und Lilienscepter, in der Mitte MARIA mit den beiden Händen über die Brust gekreuzt, oben CHRISTUS, die rechte Hand zum Segnen erhoben, mit der linken Hand das geöffnete Buch haltend; in den Ranken des Weinstocks stehen 6 PROPHETEN mit Spruchbändern (ohne Schrift) in den Händen.

Die andere Seitenwand hat in der obern Hälfte einen EICHBAUM, dessen Wurzeln auf der untern Hälfte an beiden Seiten lang herunter hangen. Zwischen den Wurzeln steht eine GOTHISCHE NISCHE in altem Spitzbogen, jedoch noch mit rundbogigen Oeffnungen in den Seitenpfeilern; in der Nische steht ein Bischof, mit niedriger Bischofsmütze, die rechte

213
214

Hand zum Segnen erhoben, in der linken Hand einen einfachen Bischofsstab haltend.

Diese beiden zusammengehörenden Seitenstücke sind nun ohne Zweifel auch sehr alt; wenn sie auch nicht mehr dem romanischen Style des 12. Jahrhunderts angehören, so muß man sie doch noch in das 13. JAHRHUNDERT verweisen. Die Arbeit ist zwar vortrefflich; aber sie ist NATURALISTISCH und ängstlich und liegt offenbar in den allerersten Zeiten der gothischen Kunst, als man das natürliche Blattwerk einführte, ehe man es künstlerisch=architektonisch zu behandeln verstand. Die ganze Arbeit ist flach gehalten und mehr gezeichnet und ausgeschnitzt, als modellirt; die Oberfläche liegt fast ganz in einer ebenen Fläche. Die FIGUREN sind groß und SCHLANK, wenn auch flach. Das BLATTWERK ist gut gezeichnet, aber oft klein und naturalistisch behandelt, so daß noch überall die Zeichnung durchschimmert; die Blätter sind nach ihrer Lage je nach der Oberfläche mit vertieften und nach der Unterfläche mit erhabenen Rippen unterschieden und die Rippen der Natur ängstlich nachgeahmt. Die ZWEIGE, welche nach dem natürlichen Wuchs nicht Platz finden konnten, sind als ABGEHAUEN dargestellt. Die Kronen sind große, alte Lilienkronen. Das kurze SCEPTER Davids ist oben mit einer sehr großen, breiten Lilie geschmückt, wie solche auf den großen Brakteaten und andern Werken der romanischen Zeit erscheinen. Die BISCHOFSMÜTZE ist sehr NIEDRIG und schmucklos; der sehr einfache BISCHOFSTAB hat nur ein EINFACHES Weinblatt in dem Haken und nur einen kleinen Knopf unter dem Haken. Ueberall zeigt sich, z. B. in der Umrahmung, noch der RUNDSTAB, nirgends ist eine Hohlkehle sichtbar. DIE NACHAHMUNG DER NATUR tritt überall hervor, während die romanische Kunst eine ausgebildete Architektur=Ornamentik hatte, welche mit großer Gewandtheit und Freiheit behandelt ward, wie schon die romanischen Chorstühle zeigen. Die einzige architektonische Stylandeutung, die sich findet, ist der Spitzbogen, unter welcher der Bischof steht; aber dieser gothische Bogen ist sehr einfach, alt und strenge und liegt jedenfalls in den ersten Anfängen der Gothik.

Ich trage daher kein Bedenken, diese Seitenstücke IN DIE MITTE DER ZWEITEN HÄLFTE DES 13. JAHRHUNDERTS, ungefähr zwischen 1260-1280 zu setzen, in die Zeit, in welcher der nördliche Theil des KREUZGANGES GEBAUET ward. Daher ist dieses Kunstwerk auch noch sehr alt und sowohl durch Seltenheit, als durch Geist und Zartheit ein sehr ausgezeichnetes Stück.

214
215


3. Der junggothische Chorstuhl.


An der Nordseite des hohen Chors steht ein großer Chorstuhl mit drei Sitzen, welcher in den Seitenwänden und in der Bedachung noch unversehrt ist; es fehlen nur die alten drei Sitze. Er hat einen dreifach getheilten Baldachin und hohe Giebel und Fialen; die ganze Arbeit stammt aus der jüngern Zeit der Gothik und läßt sich ziemlich genau nach der Zeit bestimmen. Die Seitenwände sind nur mit der gewöhnlichen gothischen Architektur geschmückt. Unter den Giebeln stehen jedoch zwei große geschnitzte Wappen, rechts das Wappen des Bisthums Ratzeburg, (eine halbe Burg und ein Bischofsstab), links das WAPPEN DES BISCHOFS JOHANN PROEL, welcher 1440-1454 den Bischofsstuhl einnahm und in der Kapelle hinter diesem Stuhle begraben ward. Dieser Stuhl, welcher ziemlich gut gearbeitet ist, erhält durch diese Zeitbestimmung eine gewisse Wichtigkeit.

Noch wichtiger aber wird dieser Stuhl durch die gottesdienstliche Bestimmung, welche er hatte. Es ist dies einer jener seltenen Stühle, welche zum Meßdienst gehörten, also ein kirchliches Geräth bildeten, ein sogenannter "LEVITEN-STUHL". Während an der Nordseite (Evangelienseite) des alten Altars das Tabernakel stand, stand an der Südseite (Epistelseite) ein hoher, oft architektonisch reich geschmückter Chorstuhl mit drei Sitzen, in welchen sich der Meßpriester, der Diakon und der Subdiakon anbetend zurückzogen, während das Gloria in excelsis und das Credo gesungen ward. Ich habe diese Stühle in den Jahrb. XXII. S. 218 flgd., berührt und sie in Doberan, Amelungsborn, Maulbronn, Wimpfen und sonst nachgewiesen. Dieser Stuhl in Ratzeburg gehört nach seiner ganzen Einrichtung ohne Zweifel zu den Stühlen für den Meßdienst und stand früher gewiß an der Südseite, von wo er aber vor einem ungeheuren modernen Epitaphium weichen mußte. An seiner Stelle flickte man wohl im 17. Jahrhundert den oben erwähnten altgothischen Stuhl zusammen, welcher viel schmaler und niedriger ist und dem Epitaphium nicht im Wege steht. Leider sind die beiden Chorstühle im J. 1648 schwarz angestrichen, wie überhaupt die todte schwarze Stuhlfarbe in dem weiß getünchten Dome vorherrschend ist.


G. C. F. Lisch.

 



Hier die Vorlage der Transkription, in Frakturschrift, auch zum Download:





*)
Lisch bezieht sich hier auf die Publikation von Jules Gailhabaud:  L' architecture du V.me au XVII.me siècle et les arts qui en dépendent : la sculpture, la peinture murale, la peinture sur verre la mosaique, la ferronnerie, etc. ; publiés d'après les travaux inédits des principaux architectes français et étrangers. Paris: Gide, 1858. - Eine downloadbare Auskopplung des Ratzeburg-Kapitels (mit gravierten Illustrationen) innerhalb dieser Publikation gibt es hier:





Georg Christian Friedrich Lisch (1801-1883): Die alten Chorstühle des Domes zu Ratzeburg. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 29 (1864), S. 211-215. - Er war Prähistoriker, mecklenburgischer Altertumsforscher, Großherzoglich mecklenburg-schwerinscher Archivar, Bibliothekar und Konservator sowie Heraldiker, Redakteur und Publizist. Unter Lischs tätiger Mitwirkung wurde 1835 der "Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde" gegründet, für den Lisch fast fünf Jahrzehnte intensiv tätig war. Er war Erster Sekretär des Vereins, baute die Sammlungen des Vereins auf und gab die Jahrbücher und Jahresberichte des Vereins heraus, in denen er sehr viele eigene Aufsätze publizierte, so wie diesen.