Der Ratzeburger Dom.
Unter
den Lübeckern, welche Sinn für Naturschönheit haben, giebt es gewiß
wenige, die nicht einmal einen sommerlichen Tag in dem prächtigen
Ratzeburg zugebracht hätten, und diese wißen, daß das
Landschaftsbild, an welchem sich das Auge erfreut, vor manchen
ähnlichen ganz besonders ausgezeichnet ist durch die majestätische
Baugruppe des altergrauen Doms, welche in ihrer monumentalen Würde
allenthalben den Mittelpunkt der Prospecte abgiebt und der
Landschaft die feierlich-milde Stimmung verleiht. Dieselben wißen
auch, daß nicht minder in der Nähe jener Bau auf seinem von Linden
umschatteten Hügel einen ebenso bedeutenden wie reizvollen Anblick
gewährt, und so werden diese alle nicht ohne Interesse vernommen
haben oder vernehmen, daß der Großherzog von Mecklenburg die seit
längerer Zeit beabsichtigte Restauration des Doms in derjenigen
Weise auszuführen befohlen hat, welche von einer aus Baukünstlern
und Archäologen zusammengesetzten Commission vorgeschlagen und durch
eine wohl unterrichtete Feder in der Neustrelitzer Zeitung
(Rostocker Zeitung No. 150) dankenswerther Weise dem Publikum
bekannt gegeben worden ist.
Ein Architect kann den höchsten
Ruhm verdienen durch seine klaren und zweckmäßigen Pläne und die
Schönheit seiner Aufrisse und doch unbefähigt sein, Restaurationen
in irgend genügender Weise auszuführen, denn dazu genügt weder ein,
wenn auch noch so großer Schatz technischer Kenntnisse und Reichthum
an Erfindungsgabe, noch die möglichst vollständige Beherrschung
dieses oder jenes Styls, sondern es ist auch eine Summe allgemeiner
Bildung, ein Fonds von poetischem Sinn, Tact und ganz besonders von
Pietät und Bescheidenheit erforderlich, um wahrhaft restauriren zu
können. Der Baurath Daniel in Neustrelitz, welcher in Ratzeburg
diese Aufgabe lösen soll, gilt in seiner Heimath Schwerin für einen
ganz besonders tüchtigen und gebildeten Künstler und wird, so weit
man aus dem obengedachten Zeitungsartikel schließen kann, diesem
ausgezeichneten Rufe auch durch die That hier gerecht werden.
Das in jenem Artikel dargelegte Programm des beabsichtigten
Unternehmens begreift wesentlich drei Puncte, nämlich Abbruch der
Anbauten des 14. beziehentlich des 15. Jahrhunderts und
Wiederherstellung der alten Seitenschiffe, Neubau der Orgel und
eines Choraufganges vom Schiffe aus, Wiederherstellung
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des alten Mobiliars und der historischen Denkmäler und
Erneuerung der Kirchenstühle. Das ist ein Programm, dem volle
Billigung im Allgemeinen zu Theil werden wird. Allerdings könnte
leicht die Beseitigung der Capellen im Interesse der malerischen
Wirkung des Bauwerks Widerspruch erfahren, aber wenn man in Betracht
zieht, daß diese Anbauten in üblem baulichen Zustande sich befinden,
daß sie sowohl der Anlage nach, als bezüglich der Einzelheiten ohne
nennenswerthe künstlerische Bedeutung sind und theilweise durch eine
handwerkerliche Erneuerung einen widerwärtigen Anblick dem
bauverständigen Auge bieten, so wird man nicht umhin können, der
beabsichtigten Freilegung und Wiederherstellung der alten
Seitenschiffe zuzustimmen. An die eine der Capellen lehnt sich
freilich die Sage und ist dieselbe Ruhestätte Herzog Erichs des
älteren von Bergedorf, aber es scheint das den angegebenen
Mißständen gegenüber doch keine zwingende Nöthigung mit sich zu
führen sie zu erhalten, vorausgesetzt, daß Maßregeln getroffen
werden, um Grabstein und Gruft schicklich zu bewahren.
Daß
die Orgel an ihrer jetzigen Stelle den besten Platz habe, wird
niemand behaupten, und ebenso wenig wird es beklagt werden, daß
dieselbe nicht, gemäß früherer Intention, in das nördliche Transsept
verlegt werden soll. Wirklich scheint kein besserer Platz für
dieselbe zu ersinnen, als derjenige unter dem Thurme, wo man jetzt
den Bau anordnen will. Voraussetzen muß man aber dabei, daß
bezüglich Orgel- und Sängerbühne nicht des Guten zu viel geschehen
wird. Die Orgel ist bestimmt, den Gesang der Gemeinde zn leiten und
zu begleiten, nicht aber zu Concerten und Produktionen reisender
Musikanten, und die Erfahrung lehrt, daß übergroße Anlagen nicht
allein die Raumverhältnisse der Kirchen auf das Empfindlichste
schädigen, sondern daß auch die Gemeinden bei solchen das Singen
nachund [sic!] nach ganz aufgeben.
Daß ein Aufgang vom Schiffe zum Chore früher bestanden hat, mag sich
herausgestellt haben, die Herstellung eines solchen aus irgend
welchen Gründen wünschenswerth sein; eine besonders vortheilhafte
Wirkung wird man sich aber von dieser Anordnung nicht versprechen
dürfen.
Einverstanden wird man sich ferner erklären mit der
Conservirung der jetzigen Kanzel, welche freilich erst dem 16.
Jahrhunderte angehört, aber ein tüchtiges Werk ist und nach ihrer
Säuberung von späterem Anstrich - sie wird ursprünglich höchstens
mit Gold und einem Minimum von Farbe staffirt gewesen sein - mehr
Interesse erwecken und Wohlgefallen finden wird, als jene kostbaren
und langweiligen neuen Structuren, welche den Stempel mühsamer
Composition an der Stirne tragen. Aeußerst fraglich erscheint es
aber, ob der Altaraufsatz sich gleichfalls erhalten laßen wird. Soll
der Dom nämlich, so weit es möglich und nöthig ist, in
uranfänglicher Erscheinung
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wieder erstehen, so muß demselben nothwendig auch die
angeordnete normale Erleuchtung zurückgegeben werden, welche Chor
und Mittelschiff durch die Fenster der Apsis erhielten, und es wird
sich diese Nothwendigkeit um so zwingender geltend machen, als das
westliche Fenster durch die Orgelbühne mehr oder minder verdeckt
werden wird. Man wird in der That auch ohne Verletzung der Pietät
zur Beseitigung des zopfigen Ungethüms sich entschließen können und
dafür möglicherweise die vortrefflichen Standbilder in einem neuen
Aufsatze wieder zu Ehren bringen, welche, wie es scheint, den
früheren Hochaltar zierten, gegenwärtig aber mit anderen guten
Bildwerken in der südlichen Capelle in schändlicher Vernachläßigung
weggestaut und bübischer Ruchlosigkeit preisgegeben sind.
Freudig begrüßt werden wird die projectirte Restauration der alten
Chorstühle, welche über Deutschlands Grenzen hinaus den Archäologen
bekannt sind, so wie der Vorsatz, die historischen Denkmähler
älterer und jüngerer Zeit, die Grabsteine, Epitaphien u. s. w. zu
conserviren, sofern das Heben, Verlegen und Abnehmen unter genauer
Aufsicht und von Steinhauern ausgeführt wird, nicht von Mauerleuten,
welche nicht gewohnt sind mit großen Steinmassen zu hantiren und
schon manchen werthvollen Stein zerbrochen haben.
Nehmen wir
dann schließlich an, daß man bei Erneuerung des Gestühls, falls die
vorhandenen Mittel nicht reichen dasselbe in Eichenholz auszuführen,
Abstand nehmen wird von dem ebenso unwürdigen wie erfolglosen
Versuche mittelst Oelfarbe das Tannenholz als Eichenholz erscheinen
zu laßen, daß man bei Erneuerung der Thüren nicht an theure und für
unser Klima unzweckmäßige gestemmte Arbeit denkt und zu den
Beschlägen derselben Schmiede-, nicht Klempnerarbeit, zu den
Fenstern Kathedralglas nimmt und Solidität der Arbeiten
vergänglicher Eleganz vorzieht, so könnten wir uns damit der
freudigen Hoffnung hingeben, daß man in Ratzeburg die anderwärts so
vielfach begangenen Fehler vermeiden und hier eine wahrhafte,
gediegene, mustergültige Restauration sich vollziehen werde, die zur
Nachfolge in Lübeck anregen möchte, wenn nicht ein Passus in dem
obberegten Artikel geeignet wäre die allergrößten Besorgnisse
wachzurufen, insofern derselbe besagt, daß das Innere, die Wand= und
Gewölbeflächen, mit einfacher dem Style und der schlichten Bauweise
des Doms entsprechender Bemalung versehen werden solle. Es scheint
nämlich daraus hervorzugehen, daß man von vorne herein ein gewisses
System die Architektur polychrom zu behandeln ins Auge gefaßt habe.
Sollte das keine Täuschung sein, so wäre jene Absicht im Interesse
der Sache sowohl, wie des leitenden Künstlers auf das Höchste zu
beklagen, denn die Arbeit, welche man auszuführen vorhat, würde dann
keine Restauration mehr sein, sondern aus ein simples Renoviren
hinauslaufen und die Malerei, möchte sie auch
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den
besten Vorbildern entlehnt sein, nicht um ein Tüttelchen mehr
relativen Werth beanspruchen können, als die Tableaux vom Jahre
1648, mit denen man das Triforium zu schmücken beabsichtigt hat. Die
Restauration eines Bauwerks soll das ursprüngliche Werk eines
Meisters, das durch Zeit und menschlichen Unverstand beeinträchtigte
oder beschädigte Kunstgebilde wieder in möglicher Integrität
auferstehen laßen, wieder zu Ehren und Geltung bringen. Das kann
aber nur geschehen, was decorative Ausstattung durch Malerei
anlangt, wenn genau dieselbe zur Erscheinung gebracht wird, welche
nicht allein Zeit und Land, sondern auch dem Bauwerke eigenthümlich
angehört, und diese Forderung muß bei Ziegelbauten um so strenger
erfüllt werden, als bei solchen wegen des fast gänzlichen Mangels an
plastischem Ornament Farbe und Malerei von vorzüglicher Bedeutung
sind. Dazu würde es die größte Inconsequenz sein, wollte man
einerseits die alten Bauformen wieder herstellen, und andererseits
dieselben mit Farben und Decorationen zieren, welche den Vorfahren
vielleicht ganz unbekannt, jedenfalls von ihnen nicht beabsichtigt
waren. Kurz, es läßt sich mit Fug über die decorative Behandlung der
innern Architectur in diesem Augenblicke nicht das Mindeste
feststellen, und wenn auch mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit
zu vermuthen ist, daß, außerdem daß die senkrechten Flächen im
Rohbau stehen geblieben, alle Wölbungen aber geputzt sind, nach
gewissen Spuren Grün zu Bändern urn Stabwerk, dann aber vielleicht
auch noch Gelb und Schwarz in maßvollster Weise Verwendung gefunden
haben, so wird sich das Wie und das Wo erst dann sicher
herausstellen, wenn von vorsichtigen Arbeitern unter genauer
Aufsicht die Tünche mit (hölzernen) Klöpfeln entfernt worden ist.
Man wird dann auch erfahren, ob etwa die jetzigen Malereien oberhalb
der Arkaden ältere Bilder bedecken, was freilich nicht
wahrscheinlich, und ob die anscheinend altgeputzte Apsis mit
figuralen Darstellungen geschmückt ist.
Möchte die vorstehend
kundgegebene Zustimmung Anklang finden, die Bemerkungen zutreffend
erscheinen, die Befürchtung eitel sein und die alte Wahrheit neue
Bestätigung finden, daß es einem guten Worte nicht an einer guten
Statt fehle, in Lübeck aber der gegenwärtige Hinweis Theilnahme an
dem nachbarlichen Unternehmen erwecken.
[Symbol anstelle eines Autornamens]
Hier die
Vorlage der Transkription, in Frakturschrift, auch zum Download:
Dr. med. et. h. c. Friedrich Georg Ludwig Crull (1822-1911) war ein
deutscher Arzt, Historiker und Archivar. Nach der Gymnasialzeit
studierte er Medizin, zunächst an den Universitäten Jena, Göttingen
und Berlin, promovierte 1848 und ließ sich als Arzt in seiner
Heimatstadt Wismar nieder, praktizierte dort bis 1883. Allerdings
wurden seine (regional-)geschichtlichen Interessen, die er seit
seiner Jugend besaß, immer übermächtiger. Schon in den 1850er und
frühen 1860er Jahren verfasste er zahlreiche - oft kritische -
Baubeschreibungen mecklenburgischer Kirchen an der Ostseeküste, die
darauf abzielten, das Heimat- und Verantwortungsgefühl für diese
Bauten im Lande zu wecken. Schließlich gab er den Arztberuf auf, um
sich ganz diesen Studien widmen zu können. In einem Nachruf heißt es
dazu: "Am 4. Juni 1911, als das 76. Vereinsjahr sich seinem Ende
zuneigte, verstarb zu Wismar unter verehrter Ehrensenior Herr Dr.
med. et h. c. phil. FRIEDRICH CRULL im hohen Alter von 88 Jahren.
Nicht ein Fachgelehrter in dem Sinne, daß er sein Studium von
vorneherein der Geschichte zugewandt hätte, aber nach Veranlagung,
unermüdlichem Fleiß und selbsterworbener Sachkunde ein berufener und
erfolgreicher Geschichtsforscher, hat er für die Aufhellung der
Vergangenheit seiner Vaterstadt Wismar und seines Heimatlandes
Mecklenburg [...] außerordentlich nachhaltig gewirkt." (Verein für
Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde (Hrsg.): Jahrbücher
des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band
76 (Schwerin: Bärensprungsche Hofbuchdruckerei, 1911), Anhang, S. 1.
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