Horst Otto Müller
Glockengeschichte 2


Die Mobilmachung von Nichteisenmetallen
und ihre Folgen - Der Erste Weltkrieg
 

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren Parolen wie “Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause” oder “Auf einen Kaffee nach Paris” Ausdruck der Hoffnung auf einen Sieg (in Erinnerung an schnelle Erfolge im deutsch-französischen Krieg 1870/71), viele Gutgläubige rechneten mit einem schnellen Waffengang. Doch als sich schon nach wenigen Wochen zeigte, daß der von der deutschen Heeresführung favorisierte rasche Bewegungskrieg erstarrte und sich zu einem zunehmend erbittert geführten Stellungskrieg wandelte, entstand gleichzeitig die (berechtigte) Frage, ob dauerhaft genügend Material für kriegswichtige Zwecke bzw. zur Sicherstellung des Heeresbedarfs zur Verfügung stehen würde.
 

Schönberg, Hinterstraße: Menschen in der "Metallmobilmachungsstelle" (li; 1915, re: 1917)
 

Die Ursache des Problems lag in der Tatsache, daß Deutschland in jener Zeit weit über 40 Prozent aller benötigten Rohstoffe aus Übersee bezog. Nach weitestgehendem Fortfall der Rohstoffimporte durch die britische Seeblockade gab es nur die Möglichkeit, Ersatzstoffe zu finden oder vorhandene Ressourcen zu strecken und zu sammeln. Bereits im August 1914 war die von Walther Rathenau geleitete Kriegsrohstoffabteilung (KRA) gegründet worden, um durch eine schnell einzuführende Zwangsbewirtschaftung aller vorhandenen Rohstoffe die deutsche Kriegsfähigkeit zu sichern.

Das begann zunächst in ganz kleinem Rahmen in sogenannten "Metallmobilmachungsstellen", hier gezeigt an zwei von Friedrich Thiele fotografierten Szenen, die sich heute im Bestand des Volkskundemuseums in Schönberg befinden. Die ausschließlich zum Zwecke einer späteren Einschmelzung dort zusammengeführten Türgriffe, Waschzuber, Kochgeschirrteile, Teekannen, Metallzäune und Kupferdächer offenbarten schonungslos, wie sehr Deutschland seinen Gegnern bei der Rohstoffversorgung unterlegen war. Je länger sich die Kampfhandlungen hinzogen und je stärker sie in wahre Materialschlachten ausarteten, desto größer wurde der Rahmen, den die Kriegsrohstoffabteilung für die Requirierung weiterer Quellen absteckte.

Die erst zwei Jahrzehnte alten Bronzeglocken des Ratzeburger Doms (qualitätvoll gegossene Bronzeglocken können ohne Weiteres 300-500 Jahre und länger erklingen, sie waren also gerade erst richtig 'eingeläutet') waren demnach nicht sofort zu Kriegsbeginn 1914 gefährdet, aber bald darauf. Sie wurden unausweichlich Teil einer gesetzlich sanktionierten, sorgfältig geplanten und überwachten militärischen Aktion. Es war auch in früheren Jahrhunderten üblich gewesen, Glocken als Beutegut zu verstehen,  sie wegzubringen und/oder einzuschmelzen, aber für die Zeit um 1800 (bezogen auf Frankreich) und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts (bezogen auf Deutschland) trifft dieser Sachverhalt in besonderer Weise zu.

Um die aufgeheizte patriotische Stimmung, in der dies möglich wurde, besser zu verstehen, hilft ein Blick in eine typische Schrift aus dem Jahr 1917 zum Thema: "Die Enteignung der Kirchenglocken."


Die Enteignung der Kirchenglocken
im Herzogtum Braunschweig im Kriegsjahr 1917.
Braunschweig: E. Appelhans & Comp., 1917.
 

Gleich zu Beginn seines Merkblattes weist der Verfasser Hans Pfeifer, herzoglicher Oberbaurat in Braunschweig, auf einen wesentlichen Aspekt hin: „Die Beschlagnahme, Enteignung und Ablieferung der Bronzeglocken greift tiefer in das kirchliche Leben ein, als die gleiche Maßnahme hinsichtlich der Orgelprospektpfeifen. Während diese fast allgemein stumm, und leicht zu ersetzende Schaustücke sind, geht mit der Glocke nicht nur die Form, sondern auch der Ton, die Sprache verloren, die jahrhundertelang Freud und Leid der Gemeinde verkündet hat.“

Die Leserin bzw. der Leser könnte nun den Eindruck gewinnen, daß der Autor vielleicht gegen die Einschmelzung ist, doch es kommt ganz anders:

Dieses Merkblatt „... soll auf den vielfach noch verkannten Wert der Glocken hinweisen, nicht, um die Befreiung von der Beschlagnahme zu ermöglichen - denn die wertvollste Glocke ist, wenn es sein muß, gerade gut genug, dem Vaterlande geopfert zu werden, um das Leben unseres Volkes in Waffen zu schirmen, - sondern um die Kirchengemeinden und Glockenbesitzer anzuregen, genaue Aufnahmen der Glocken und Abdrücke der Verzierungen anfertigen zu lassen, damit Form und Ton der für die Orts- und Heimatgeschichte wertvollen Glocke festgelegt wird; eine Anordnung, die auch für die demnächstige Wiederanschaffung der enteigneten Glocke von Wert ist.“

Schließlich gibt H. Pfeifer noch einen Hinweis auf die Vorgehensweise, die sich im Zweiten Weltkrieg identisch wiederholen wird: „Nach der Bekanntmachung der Heeresverwaltung können nach sachverständigem Urteil Glocken von besonderem wissenschaftlichen, geschichtlichen und Kunstwert von der Beschlagnahme befreit, minder wertvolle vorläufig zurückgestellt werden. Möge Gott verhüten, daß auch diese auf dem Altare des Vaterlandes geopfert werden müssen!“

Es soll durch das Referieren dieser Quelle nicht der Eindruck entstehen, als sei die Glockenvernichtung eine rein deutsche Erfindung: in der Zeit unmittelbar nach der Französische Revolution wurde eigens ein Gesetz erlassen, das jede Art der Einladung zum Gottesdienst unterbinden wollte und deshalb den Gebrauch von Glocken verbot. In ganz Frankreich wurden damals mehr als 100.000 Glocken vernichtet. Es wurden besondere Maschinen konstruiert, um besonders große Glocken, die man nicht vom Turm schaffen konnte, an Ort und Stelle zu zerschlagen; so haben an der zweitgrößten Glocke von Notre-Dame von Paris acht Männer sechs Wochen lang gearbeitet, um sie auf dem Turm zu zertrümmern.

Genügend Bronze, etwa für Granatringe, verfügbar zu haben, war ein zentrales militärisches Anliegen. Daher wird von der Obersten Heeresleitung schon zu Kriegsbeginn überlegt, wie dieses Vorhaben erfolgreich umzusetzen sein kann, ein Projekt, das sich im zweiten Weltkrieg nahezu identisch wiederholen wird. 1940 wird es im Reichsgesetzblatt heißen: "Um die für eine Kriegsführung auf lange Sicht erforderliche Metallreserve zu schaffen, ordne ich an: ... Die in Glocken aus Bronze und Gebäudeteilen aus Kupfer enthaltenen Metallmengen sind zu erfassen und unverzüglich der deutschen Rüstungsreserve dienstbar zu machen." Die Vorgehensweise kann in der Rückschau nur als "sehr gründlich" charakterisiert werden: insgesamt werden in Deutschland bis Kriegsende 44 Prozent aller Kirchenglocken zu Kriegsgerät umgeschmolzen.

Das Ende der Ratzeburger Domglocken der Firma C. Voss beginnt mit einem Schreiben des Großherzoglichen Konsistoriums in Neustrelitz vom 14. März 1917. Der Briefabsender weist den Domprobsten auf (die hier ja nicht relevante) Möglichkeit hin, Bronzeglocken, die einen herausragenden Geschichts- oder Kunstwert haben, als solche zu melden.

Nur wenige Tage später erreicht die Domprobstei ein Brief der Großherzoglich Mecklenburgischen Landvogtei des Fürstentum Ratzeburgs aus Schönberg. Er enthält außer dem Anschreiben und einigen Meldeformularen (eins für jede Glocke!) den Hinweis, daß es die Möglichkeit gibt, nicht aus Bronze hergestellte Glocken von der Beschlagnahme zu befreien, aber das trifft für die Domglocken nicht zu.

Da die Dienststelle in Schönberg die bevorstehende Abnahme-Aktion bekannt gemacht hat, melden sich jetzt einschlägige Dienstleister beim Domprobst mit der Offerte, die erforderlichen Arbeiten sach- und termingerecht ausführen zu wollen. In Form einer Postkarte, adressiert an "Das Hochwürdige Pfarramt", unterbreitet die Lübecker Firma M. & C. Ohlsson, Hofglockengießer, ihr Angebot:
 




Schreiben der Firma Ohlsson vom 20. März 1917.
Quelle: Archiv der Domprobstei.


Für die Ratzeburger Domglocken gibt es jetzt kein Entrinnen mehr: sie sind a) aus Bronze, b) nicht historisch oder von besonderem kunstgeschichtlichen Wert und c) es ist auch nicht schwierig, sie auszubauen, mit Flaschenzügen abzuseilen und wegzutransportieren:




Blick aus dem unteren Hauptturm-Geschoß
über den Domsee, 2012.


Für den gegenteiligen Fall hätte die Militärfiskalbehörde eine Ausnahme zugelassen. Im zugehörigen Formblatt (Richtlinien für die Anmeldung von Glocken) heißt es dazu: "In Spalte 4 ... sind die Glocken aufzuführen, die so schwierig hängen, dass die Kosten des Einbaues der Ersatzglocken (ausschließlich des Wertes derselben) den vergüteten Metallpreis übersteigen. Für derartige Glocken ist in Spalte 6 das Kennwort 'Hohe Einbaukosten' einzutragen, ebenso in Spalte 7 der Name der zuständigen Kirchenbehörde oder eines Glockengiessers." (In Wismarer Kirchen konnten auf diese Weise mehrere historische Glocken vor dem Einschmelzen bewahrt werden. Die Kirchenleitung machte glaubhaft, daß durch ein späteres Einziehen von Gewölben in unteren Turm-Geschossen ein Wiederausbau der großen Metallkörper unmöglich ist).

Im Mai 1917 wurde ein Flugblatt verbreitet mit dem Motto: "Gedenket unserer Glocken!" Dort heißt es einleitend: "In den nächsten Monaten wird eine große Zabl von Kirchenglocken in Deutschland zu militärischen Zwecken beschlagnahmt werden. Und wenn dabei auch die durch Alter, Kunstwert und schönen Klang hervorragenden Glocken verschont bleiben sollen, so werden doch viele andre verschwinden, die vordem die Herzen vieler Geschlechter in festlich frohen und ernsten Stunden erbaut und gerührt haben. Darum tritt an alle Freunde des deutschen Volkstums die Mahnung heran, ihr Andenken festzuhalten und sowohl die Sprüche, mit denen sie geziert waren, als die mannigfachen Bräuche und Sagen, die sich in den einzelnen Ortschaften an sie knüpfen, sorgsam aufzuzeichnen, ..." eine Aufforderung, der auch das Großherzoglich Mecklenburgische Konsistorium in einem Dienstbrief vom 1. Juni 1917 Nachdruck verlieh. Von Ratzeburger Seite konnte hier dem letzten Satz dieses Schreibens entsprochen werden: "Diejenigen Herren Pastoren, die hierzu nicht wirklich Denkwürdiges zu berichten wissen, brauchen nicht zu antworten."

Die Angelegenheit war entschieden, am 28. Juni erreicht ein bereits erwarteter Brief die Dompropstei: mit der "Anordnung betr. Eigentumsübertragung auf den Militärfiskus" verliert die Domgemeinde vier Domglocken. Der Brief stellt unmißverständlich klar: das Eigentum an den Glocken geht auf den Militärfiskus über; "... sobald Ihnen diese Anordnung zugegangen ist." Vier große Glocken waren abzuliefern, eine ganz kleine (ehemalige Schulglocke) durfte bleiben gemäß der Zusatzbestimmung in den "Richtlinien für die Anmeldung von GlockenŽ", in denen es abschließend heißt: "Hinzugefügt sei, daß alle bronzenen Kirchenglocken unter diese Beschlagnahme fallen, sofern sie nicht unter 20 kg wiegen oder einem mechanisch betriebenen Glockenspiel angehören." Diese Einschränkung klingt nur auf den ersten Blick großzügig, denn es stellte sich heraus, daß nur ca. 3 Prozent sämtlicher Kirchenglocken in diese Rubrik fielen.

Dem Kirchenvorstand war es darüber hinaus gelungen, eine 900 kg schwere Glocke vorläufig vor dem Einschmelzen zu schützen. Ein Archivdokument vom 30. Juni 1917 gibt Aufschluß darüber, daß der Versuch, sie als "Gottesdienstbedarf" einzustufen, von Erfolg gekrönt war. Der hierfür zuständige Sachverständige in Neustrelitz, Ministerialbaurat Schondorf, hatte ein entsprechendes Gutachten erstellt. Damit war diese Glocke "von der Enteignung und Ablieferung vorläufig auf jederzeitigen Widerruf zurückgestellt bezw. von der Beschlagnahme, Enteignung und Ablieferung befreit."

Eine Verzögerung der Abnahme entstand nur dadurch, daß die hierzu befähigten Firmen spürbar überlastet waren. Da der Bedarf im Sommer 1917 offenbar sehr groß ist, entschließt sich die militärische Führung, Soldaten zum Abbau und Abtransport zur Verfügung zu stellen. Am 7. Juli 1917 geht in der Domprobstei ein diesbezügliches Schreiben ein: "Die Heeresleitung verlangt tunlichste Beschleunigung des Ausbaues der Glocken. Falls die verfügbaren Hilfskräfte (Zimmerleute, Bauunternehmen, Glockengießer) zum rechtzeitigen Ausbau und Abtransport der Glocken nicht ausreichen, kann beim stellvertr. Generalkommando eine militärische Kolonne für den Ausbau von Glocken angefordert werden. Im Bedarfsfalle werden auch Militärautos bezw. Militärfuhrwerke für den Abtransport der Glocken zur Sammelstelle bezw. zur Bahn soweit möglich zur Verfügung gestellt. Die Kosten für den Ausbau hat die anfordernde Stelle an das Generalkommando zu vergüten. Sie sind einheitlich geregelt und auf M. 15 für jede MIlitärperson und für jeden Arbeitstag festgesetzt. Die Kosten des Abtransportes der herausgenommenen Glocken geht ebenfalls zu Lasten der anfordernden Stelle. ... Als neuer Ablieferungstermin tritt alsdann der Tag, an dem das Militärkommando die Ablieferung bewirkt, in Kraft. Es wird zur Kenntnis gegeben, daß etwaige Anforderungen an das Ersatz-Pionier-Batl. Nr. 9 zu richten sind."

Zwei Tage später bietet der Inhalt eines Briefes der Großherzoglich Mecklenburgischen Landvogtei gedankliche Hilfe zur Entscheidung der Frage, ob militärische Hilfe oder die des Glockengießers Ohlsson in Anspruch genommen werden sollte (Alternativen gab es nicht, denn: "Was die Uebertragung der Arbeit an die Firma Ohlsson betrifft, so ist diese vom Großherzoglichen Ministerium als einzigste Glockengießerei in Vorschlag gebracht, mit der in Verbindung zu treten sei.") Der Vorschlag der Landvogtei zielt darauf hin, eine Vorab-Glockensammlung vorzunehmen: "Um eine Erleichterung in der Ablieferung der Glocken eintreten zu lassen, schlägt die Landvogtei vor, die Uebergabe der Glocken dort an Ort und Stelle vorzunehmen und sie dort bis zum Abruf durch die Metallmobilmachungsstelle dort unterzustellen. Es würden hierdurch die Kosten des Transports nach Schönberg fortfallen. Vielleicht könnte auch der Pfarre in Ziethen anheimgegeben werden, die abzuliefernde Glocke nach dem Domhof zu bringen."

Es trifft rasch ein Angebot der Firma Ohlsson an den Domprobsten Carl Ludwig Bossart ein: "Kostenschlag. - Herabnahme von zwei großen Glocken im Gewicht von ca. 5000 kg sowie 2 kleine Glocken im Dachreiter, Stellung eines Montörs, Reise, Aufenthaltskosten, Unfallversicherung, Zeitbeanspruchung und sonstige Bemühungen, erforderliche Hebewerkzeuge nebst Ketten und sonstige Materialien einschl. Fracht, sowie Stellung von Beihülfen, Bauhölzer etc. Anfuhren von Geräthen und Glocken zur Bahn nebst Verladung: M. 700.-"

Dem Domprobsten wird vor Allem der Zusatz gefallen haben: "Wir verpflichten uns, die Abbauarbeiten bis spätestens Ende Juli auszuführen," denn die diesbezügliche Aussage der Heeresleitung, die ihm schriftlich zugegangen war, besagte klar: "Die Bronzeglocken sind von den Bauwerken zu entfernen, und in der Zeit vom heutigen Tage bis zum 31, August 1917 an die Sammelstelle: Schönberg, Siemzer Straße 106 (Schleifermeister Reuter) abzuliefern. Die Ablieferungspflichtigen, welche die von dieser Anordnung betroffenen Bronzeglocken nicht rechtzeitig abliefern, machen sich strafbar; die enteigneten Bronzeglocken werden außerdem im Zwangswege auf Kosten des Besitzers abgeholt werden."

Von diesen avisierten Zwangsmaßnahmen abgesehen machte es für den Domprobsten auch in finanzieller Hinsicht Sinn, die ohnehin nicht zu vermeidende Ablieferung nach Kräften zu beschleunigen, denn in der Anordnung der Heeresleitung fand sich als Anreiz der Satz: "Für diejenigen Glocken, die bis zum 31. Juli 1917 ausgebaut und an die Sammelstelle abgeliefert sind, wird außer den Uebernahmepreisen (Off. Anz. 1917 Nr. 21) eine Prämie von 1 Mark für das Kilogramm gezahlt werden." - Bei einem abzuliefernden Gesamtgewicht von weit über vier Tonnen war das eine nicht unbeträchtliche Summe, die für die spätere Wiederbeschaffung eine spürbare Rolle für die Domkirche hätte spielen können.

Domprobst Bossart hatte - um zweigleisig vorzugehen - sich auch schriftlich nach militärischer Hilfe erkundigt, doch eine eher unbestimmte Antwort auf seine Anfrage erhalten. Somit fiel seine Wahl auf die Lübecker Firma Ohlsson. Er telegrafiert seine Zustimmung, erhält auch umgehend eine Bestätigung.

 

Kinder und die bereits für den Abtransport
bereitgestellten Glocken an der Westseite
des Doms. Unbekannter Fotograf, 1917.
 

Kurz vor dem Abtransport entsteht eine Art Abschiedsfoto: einige Kinder nutzen die Gelegenheit, sich die großen Bronzeglocken, die bereits herabgelassen und direkt unterhalb der beiden westlichen Turmtüren abgestellt wurden, anzuschauen.

Am 25. Juli ist es dann so weit. Die ausgebauten Domglocken werden mit Waggons der Ratzeburger Kleinbahn (zusammen mit anderen Glocken)
 



Vier Frachtdokumente der
Ratzeburger Kleinbahn vom Juli 1917
(Gewichtskarten)


zum Reichsbahnhof geschafft, von dort erfolgt die Beförderung ins mecklenburgische Schönberg; zuletzt sorgt die dortige Güterabfertigung für den Transport in die Siemzerstraße zur Sammelstelle bei Herrn Reuter. In seinem Hof gab es in jener Zeit eine große Ansammlung von Glocken. Die aus Selmsdorf hatte man gleich vor Ort zerschlagen, obwohl die Heeresleitung - wohl aus Gründen der Rücksichtnahme auf die Gefühle der Menschen - dies nur als Ausnahme zugelassen hatte.

 



Kontrolle der eingegangenen Glocken (-Teile)
Fotograf: Friedrich Thiele

Wie penibel die Militärbehörde mit den enteigneten Metallkörpern umging, zeigt indirekt ein weiteres Archivdokument: Domprobst Bossart fragt am 19. September 1917 in einem Brief an die Großherzogliche Landvogtei in Schönberg nach, wie es sein kann, daß aus Ratzeburg zwar 4734 kg Glockenmaterial abgeliefert, aber nur 4691 kg in Rechnung gestellt wurden, also immerhin 43 kg zuungusten der Domkirche. Er erhält zur Antwort, daß ein Fehler der Annahmestelle vorliegt, die Angelegenheit soll später geklärt werden.

Die Gründlichkeit des gesamten Vorgehens erweist sich auch in einer Zusatzbestimmung innerhalb der "Anordnung zur Enteignung", nämlich in einer Art 'Postleitzahl-Vorläufer': "Vor dem Abtransport sind die Glocken zu bezeichnen, am besten mittels Oelfarbe, Bleiweißfarbe und dergl. Die Bezeichnung muss erkennen lassen: die Kirchengemeinde, der die Glocke gehört und eine Angabe, ob die Glocke aus einer Nebenkirche, einer Filialkirche oder einer Pfarrkirche stammt." Die Domkirchgemeinde hatte zusätzlich Fotos anfertigen lassen, um das exakte Aussehen der abzuliefernden Glocken zu dokumentieren.

Jetzt bekommt die Domkirche den Gegenwert der enteigneten Glocken ausbezahlt (mit der offerierten Prämie für vorzeitige Ablieferung). Für den Militärfiskus ist die Angelegenheit damit erledigt, für die Ratzeburger bleibt die Frage, ob die Glocken tatsächlich eingeschmolzen werden oder ob eine Chance besteht, sie nach Ende der Kampfhandlungen zurückzubekommen.


Gut ein Jahr nach Kriegsende zeitigen die Nachforschungsversuche eine erste, wenn auch negative Reaktion: die "Geschäftsstelle der Kriegsmetall Aktiengesellschaft in Liquidation" in Hamburg teilt mit, daß sich die damals angelieferten Glocken nicht mehr auf dem Lager der Firma befinden. "Soweit wir feststellen konnten, sind die von Ratzeburg hier eingetroffenen Glocken zum Einschmelzen weiterversandt." Auch weitere Anfragen, sowohl von Domprobst Carl Ludwig Bossart als auch von privater Seite, führten nicht zum erhofften Erfolg. Ende Juni 1921 heißt es in einem Schreiben des 'Reichskommissars für die Abwickelung der Metallmobilmachung' lapidar: "Die Rückgabe erhalten gebliebener Bronzeglocken ist seitens des Reiches auf Grund eines gemeinsamen Beschlusses mit den Regierungen der Länder am 1. Juni ds. Js. eingestellt worden."

Hierzu paßt der Glockenzierspruch (Kirche in Wiesloch):

"In Deutschlands Kampf um EhrŽ und Macht /
Ward Glockenopfer froh gebracht. /
Es war umsonst; in Not und Leid /
Verging des Reiches Herrlichkeit."

Es ist klar, daß jetzt nur noch eine Neubeschaffung in Aussicht steht. Hans Pfeifer hatte hierzu 1917 in seiner oben erwähnten Schrift zum Thema 'Ersatzglocken' eine klare Empfehlung ausgesprochen: "Für das GELÄUT sollen nur wieder BRONZEglocken in Frage kommen, während für Schlagglocken der Uhren auch Gußstahlglocken geeignet sind." Doch Recherchen zeigen rasch, daß die notwendige Bronzemenge nicht zu haben ist. Domprobst Bossart müht sich vielfach, so stellt er im Mai 1922 schriftlich die Frage an das Marine-Arsenal Kiel-Ellerbek, ob die Domkirche vielleicht kostenlos unbrauchbare Hülsenkartuschen bekommen könnte. Eine zunächst positiv klingende Antwort motiviert ihn, einen förmlichen Antrag zu stellen. Allerdings trifft vier Wochen später eine Postkarte ein, die auch diese Hoffnung zunichte macht.

Die Möglichkeit, aus Eigenmitteln regulär Bronzematerial (üblicherweise eine Legierung aus 75-78 Prozent Kupfer und 22-24 Prozent Zinn) im In- oder Ausland zu beschaffen, verbot sich für die Kirchengemeinde von selbst, zumal die damals gezahlte Enteignungs-Prämie zwar einem speziellen Glocken-Fond zugeführt wurde, doch nach dem harten Währungsschnitt 1923 war davon nur ein Bruchteil übrig. Daher dauerte es bis zum Jahr 1926, bis bei der Firma Schilling & Lattermann im thüringischen Apolda ein neues Glockengeläut bestellt werden konnte, nicht aus Bronze, sondern aus Klangstahl:

"Was vordem ehern unser Mund, /
Das tun wir jetzt in Stahl Euch kund."

Diese Lösung konnte durchaus als akzeptabel erscheinen, zumindest dann, wenn man den positiven Einschätzungen Glauben schenkte, mit denen dieses relativ neue Glocken-Material in der einschlägigen Literatur bedacht wurde. So beschreibt Dipl.-Ingenieur Franz Eiermann im 2. Band des Bochumes Heimatbuchs in seinem Aufsatz "Bochumer Gußstahlglocken.", offenbar von Firmenvorgaben beeinflußt, ihre wundersamen positiven Eigenschaften. Er stellt in seinen Überlegungen zwei Fragen besonders heraus: Wie bewähren sich Gußstahlglocken im Vergleich mit Bronzegeläuten im praktischen Gebrauch (wie ist die Haltbarkeit)? Wie sind die klanglichen Eigenschaften?

"Die erste Frage ist bald beantwortet. Das an sich zweifellos als Mangel anzusprechende Abrosten verwahrloster Glocken besitzt nicht die ihm meist zugemessene übertriebene Bedeutung. Auch eine ziemlich dicke Rostschicht enthält aus chemischen Gründen nur eine recht bescheidene Menge Eisen und wird daher den Klang in merkbaren Grenzen nicht beeinflussen. Im übrigen ist der Rostgefahr durch Erneuerung des Oelanstriches in etwa fünfjährigen Zwischenräumen mit Kosten vorzubeugen, die nur einen bescheidenen Bruchteil dessen bilden, was im gleichen Zeitraume die Verzinsung der Mehrkosten einer Bronzeglocke ausmacht. Diese Mehrkosten sind sehr erheblich und betragen bei größeren Glocken mehrere tausend Mark.

Aber auch vom Standpunkt der Haltbarkeit ist die Stahlglocke weit überlegen. Während alljährlich eine große Anzahl von Bronzeglocken springt und umgeschmolzen oder in kostspieliger Arbeit nach besonderem Verfahren ausgebessert werden muß, ist bisher noch kein Fall des Springens von Stahlglocken bekannt geworden, was bei den weit überragenden Festigkeitseigenschaften des Gußstahles leicht zu erklären ist. Aus eben diesem Grunde ist auch die Abnutzung der naturharten Stahlglocken bei Gebrauch bronzener Klöppelbolzen so gering, daß nach menschlicher Voraussicht ein Ersatz wegen Abnutzung kaum jemals vorkommen wird, während Bronzeglocken verhältnismäßig bald eine merkbare Formänderung an der Anschlagstelle zeigen und nach mehrfachem Umhängen wegen allgemeiner Schwäche des Schlagringes bereits nach etwa drei Jahrhunderten zugrunde gehen.

Für die größere Lebensdauer der Stahlglocke kann noch ein anderer Umstand ins Feld geführt werden. Angesichts der Häufigkeit von Turmbränden ist die Bronzeglocke ihres niedrigen Schmelzpunktes wegen erhöhter Gefährdung ausgesetzt und wird zumeist ein Opfer der Flammen werden oder beim Niederfallen zerspringen. Stahlglocken dagegen erliegen erfahrungsgemäß ihres hohen Schmelzpunktes wegen der Hitze nicht und überstehen im allgemeinen nach dem Zusammenbruche des Glockenstuhles den Fall in die Tiefe unversehrt. So fand man häufig, z. B. nach dem Brande der Berliner Garnisonkirche, das abgestürzte Geläute wohlbehalten unter den Trümmern vor.

Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit kann man also den Stahlglocken den „Ersatz"-Charakter im Sinne der Kriegs- und Nachkriegszeit keinesfalls unterschieben, wiewohl es an Versuchen dazu begreiflicherweise nicht gefehlt hat."

F. Eiermann wendet sich dann der Klangfrage zu. Ohne die folgende Aussage in irgendeiner Form zu begründen, urteilt er so: "Fülle und Reichweite der Stahlglocke sind schon mit Rücksicht auf die vergrößerte Mensur bei gleicher Tonhöhe überlegen."

Dies trifft nur dann zu, wenn ungleich große Glocken miteinander verglichen werden, eine Klangstahlglocke muß wesentlich größer sein, um das gleiche Klangvolumen zu erzeugen wie eine Bronzeglocke eines vorgegebenen Gewichts. Immerhin räumt Herr Eiermann ein: bei "höheren Tönen ist der Bronzeglocke der Vorzug zu geben (...), während in den mittleren Lagen Gleichwertigkeit besteht, und daß in der Tiefe, also bei größeren Glocken, Gußstahl überlegen ist."

Der Domprobst hat keine Wahl: wenn neue Glocken angeschafft werden sollen, können es nur Metallkörper aus Klangstahl werden. Auf Nachfrage erfährt die Domkirchgemeinde, daß die Aufgabe, eine geographisch weit verstreute Gemeinde möglichst in toto akustisch zu erreichen, nur durch besonders voluminöse Gußglocken zu erzielen ist. Die aber sind so schwer, daß eine traditionelle Aufhängung (an der Glockenkrone) unmöglich ist, weil dann auf sowohl auf den Glockenstuhl als auch auf den Turm übergroße Kräfte einwirken, es muß daher eine Behelfslösung Verwendung finden, die sogenannte "gekröpfte Aufhängung".




Neue Ratzeburger Klangstahlglocke
mit Klöppel und weiterer Glocke.
Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.

Wie das Foto anschaulich macht, hängt die Glocke nicht an einer geraden Achse, sondern ist auf zwei seitlichen Stelzen gelagert. Durch das Kröpfen der Glockenjoche wird der Schwerpunkt der Glocke nach oben verlagert, die Glocke benötigt weniger Platz zum Schwingen, es findet eine eine geringere Belastung des Turmes beim Läuten statt. So kann eine Glocke aufgehängt werden, die eigentlich zu groß für den Turm ist. Allerdings verliert der Klang durch die Kröpfung, sie verlangsamt die Glocke und ihr Läuten wirkt dadurch spürbar weniger lebendig. Darüber hinaus sind gekröpfte Joche stärker bruchgefährdet als bei einer Aufhängung an der Glockenkrone (die hier gar nicht vorhanden ist). Die bald festgestellte klangliche Minderung durch das Material Stahl und der weitaus geringere Nachklang konnten durch ein gemeinsames Läuten mehrerer Stahlgußglocken gleichzeitig kaschiert werden.

Immerhin konnten die schwereren Glocken in einen ja erst etwa drei Jahrzehnte alten eichenen Glockenstuhl gehängt werden. Dank seiner schwingungsdämpfenden Eigenschaften hat er sich - gegenüber eisernen Glockenstühlen - als das weitaus bessere Material erwiesen.




Hinweis auf die im Weltkrieg
abzuliefernden alten Kirchenglocken.
Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.

Im Sommer 1926 werden dann die neuen Klangstahlglocken - sie wurden nicht in Bochum, sondern in Apolda hergestellt - in Ratzeburg angeliefert. Mit geschmückten Fuhrwerken werden sie anschließend zur Westseite des Domes gebracht, um von dort aus mit Flaschenzügen an ihren Bestimmungsort zu gelangen. Auf der zweizeilig umlaufenden Inschrift der größten Glocke wird auf ihren Ersatzcharakter hingewiesen: "Für im Weltkriege abgelieferte Glocken gegossen Ostern 1926".

Die auf dem folgenden Foto abgebildeten Zuschauer belegen im optischen Vergleich eindrücklich die Mächtigkeit der neuen Klangkörper.



Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.

 

Darauf scheint auch der Domprobst in seiner Glockenweihe-Predigt angespielt zu haben, denn am 4. August berichtete die "Lauenburgische Zeitung (Ratzeburger Anzeiger)": "Als die drei neuen Domglocken vor drei Wochen kamen, erwies sich, daß der Glockenstuhl für die größte Glocke umgebaut werden mußte: so verzögerte sich die Einweihung der Glocken bis zum Ostersonntag. [...] Ohne Geläute begann der Gottesdienst, nur von weitem hörte man die Stadtglocken, grüßend, fragend: 'Wie werdet ihr sein? Werdet ihr uns Geschwister sein, oder wird es ein Mißklang mit uns werden?' - Nach der Einleitungsliturgie begrüßte der Domchor die Glocken mit einem dreistimmigen Liede; darauf hielt Herr Dompropst Bossart die Weiherede. Er wies darauf hin, daß die alten schönen Domglocken dem Zweck nicht gedient hätten, für den die Gemeinde sie geopfert habe. Sie seien nicht zerschlagen und als Kriegsmaterial verwandt worden, sondern elend verschachert, und es sei nicht möglich gewesen, sie zurückzukaufen, nachdem sie durch viele Hände gegangen. Man solle ihnen aber nicht nachtrauern, sondern sich freuen, daß man wieder ein Geläute bekommen habe, das an Größe nur von wenigen in der Welt übertroffen werde."

Domprobst Bossart war sicher nicht vollständig zufrieden mit dieser Ersatzlösung, gerade weil er sich so intensiv um neue Bronzeglocken bemüht hatte, doch aus der Rückschau läßt sich feststellen, daß sich die Ratzeburger nur wenige Jahre hätten daran erfreuen können, denn die Nationalsozialisten gingen bei ihrer Metallmobilmachung rigoroser vor (es gab keine Entschädigung für enteignete Glocken) und hätten "junge" Bronzeglocken ohne Wenn und Aber einschmelzen lassen.



 

Auf Grund ihrer Beschaffenheit haben die Klangstahlglocken den zweiten Weltkrieg im Domturm überdauert und dienten der Ratzeburger Domkirchgemeinde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Dann aber wurden (Rost-)Schäden immer deutlicher.

Handwerker schufen jetzt durch das Aufbringen von Holzdreiecken eine pfiffige Form von Treppenstufen (mit seitlichem Handlauf), um dem immer größer werdenden Pflege- und Reparaturbedarf leichter Rechnung tragen zu können.
 


 

In den 1980er Jahren wurde überdies versucht, dem Glockenstuhl durch verschraubte Eisenbänder und aufgenagelte Latten eine dringend benötigte zusätzliche Verstärkung zu geben, denn trotz der gekröpften Aufhängung entstanden - gerade beim vollen Geläut - enorme Kräfte. Doch diese Maßnahmen milderten nur die Auswirkungen, beseitigten nicht die Ursache der Probleme.



Letztlich wurde allen Beteiligten klar, daß die Zeit dieser Klangstahlglocken - nach nicht einmal einem Dreivierteljahrhundert Läutebetrieb - ihrem Ende zuging und die Frage, was jetzt zu tun sei, wurde dringender. Der damalige Domprobst Hans-Jürgen Müller forcierte den Plan eines neuen Geläutes mit Bronzeglocken. Das jetzt folgende Kapitel zeichnet den Ablauf der Geschehnisse nach.