Zu Beginn des Ersten Weltkrieges
waren Parolen wie “Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause” oder
“Auf einen Kaffee nach Paris” Ausdruck der Hoffnung auf einen Sieg
(in Erinnerung an schnelle Erfolge im deutsch-französischen Krieg
1870/71), viele Gutgläubige rechneten mit einem schnellen
Waffengang. Doch als sich schon nach wenigen Wochen zeigte, daß der
von der deutschen Heeresführung favorisierte rasche Bewegungskrieg
erstarrte und sich zu einem zunehmend erbittert geführten
Stellungskrieg wandelte, entstand gleichzeitig die (berechtigte)
Frage, ob dauerhaft genügend Material für kriegswichtige Zwecke bzw.
zur Sicherstellung des Heeresbedarfs zur Verfügung stehen würde.
Schönberg, Hinterstraße: Menschen in der
"Metallmobilmachungsstelle" (li; 1915, re: 1917)
Die Ursache des Problems lag in der
Tatsache, daß Deutschland in jener Zeit weit über 40 Prozent aller
benötigten Rohstoffe aus Übersee bezog. Nach weitestgehendem
Fortfall der Rohstoffimporte durch die britische Seeblockade gab es
nur die Möglichkeit, Ersatzstoffe zu finden oder vorhandene
Ressourcen zu strecken und zu sammeln. Bereits im August 1914 war
die von Walther Rathenau geleitete Kriegsrohstoffabteilung (KRA)
gegründet worden, um durch eine schnell einzuführende
Zwangsbewirtschaftung aller vorhandenen Rohstoffe die deutsche
Kriegsfähigkeit zu sichern.
Das begann zunächst in ganz kleinem Rahmen in sogenannten
"Metallmobilmachungsstellen", hier gezeigt an zwei von Friedrich
Thiele fotografierten Szenen, die sich heute im Bestand des
Volkskundemuseums in Schönberg befinden. Die ausschließlich zum
Zwecke einer späteren Einschmelzung dort zusammengeführten
Türgriffe, Waschzuber, Kochgeschirrteile, Teekannen, Metallzäune und
Kupferdächer offenbarten schonungslos, wie sehr Deutschland seinen
Gegnern bei der Rohstoffversorgung unterlegen war. Je länger sich
die Kampfhandlungen hinzogen und je stärker sie in wahre
Materialschlachten ausarteten, desto größer wurde der Rahmen, den
die Kriegsrohstoffabteilung für die Requirierung weiterer Quellen
absteckte.
Die erst zwei Jahrzehnte alten
Bronzeglocken des Ratzeburger Doms (qualitätvoll gegossene
Bronzeglocken können ohne Weiteres 300-500 Jahre und länger
erklingen,
sie waren also gerade erst richtig 'eingeläutet') waren demnach nicht sofort
zu Kriegsbeginn 1914 gefährdet, aber bald darauf. Sie wurden
unausweichlich Teil
einer gesetzlich sanktionierten, sorgfältig geplanten und
überwachten militärischen Aktion. Es war auch in früheren
Jahrhunderten üblich gewesen, Glocken als Beutegut zu verstehen,
sie wegzubringen und/oder einzuschmelzen, aber für die Zeit um
1800 (bezogen auf Frankreich) und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
(bezogen auf Deutschland) trifft dieser Sachverhalt in besonderer
Weise zu.
Um die aufgeheizte patriotische
Stimmung, in der dies möglich wurde, besser zu verstehen, hilft ein
Blick in eine typische Schrift aus dem Jahr 1917 zum Thema: "Die
Enteignung der Kirchenglocken."
Die Enteignung der Kirchenglocken
im Herzogtum Braunschweig im Kriegsjahr 1917.
Braunschweig: E. Appelhans & Comp., 1917.
Gleich zu Beginn seines Merkblattes
weist der Verfasser Hans Pfeifer, herzoglicher Oberbaurat in
Braunschweig, auf einen wesentlichen Aspekt hin: „Die Beschlagnahme,
Enteignung und Ablieferung der Bronzeglocken greift tiefer in das
kirchliche Leben ein, als die gleiche Maßnahme hinsichtlich der
Orgelprospektpfeifen. Während diese fast allgemein stumm, und leicht
zu ersetzende Schaustücke sind, geht mit der Glocke nicht nur die
Form, sondern auch der Ton, die Sprache verloren, die
jahrhundertelang Freud und Leid der Gemeinde verkündet hat.“
Die Leserin bzw. der Leser könnte nun den Eindruck gewinnen, daß der
Autor vielleicht gegen die Einschmelzung ist, doch es kommt ganz
anders:
Dieses Merkblatt „... soll auf den vielfach noch verkannten Wert der
Glocken hinweisen, nicht, um die Befreiung von der Beschlagnahme zu
ermöglichen - denn die wertvollste Glocke ist, wenn es sein muß,
gerade gut genug, dem Vaterlande geopfert zu werden, um das Leben
unseres Volkes in Waffen zu schirmen, - sondern um die
Kirchengemeinden und Glockenbesitzer anzuregen, genaue Aufnahmen der
Glocken und Abdrücke der Verzierungen anfertigen zu lassen, damit
Form und Ton der für die Orts- und Heimatgeschichte wertvollen
Glocke festgelegt wird; eine Anordnung, die auch für die
demnächstige Wiederanschaffung der enteigneten Glocke von Wert ist.“
Schließlich gibt H. Pfeifer noch einen Hinweis auf die Vorgehensweise,
die sich im Zweiten Weltkrieg identisch wiederholen wird: „Nach der
Bekanntmachung der Heeresverwaltung können nach sachverständigem
Urteil Glocken von besonderem wissenschaftlichen, geschichtlichen
und Kunstwert von der Beschlagnahme befreit, minder wertvolle
vorläufig zurückgestellt werden. Möge Gott verhüten, daß auch diese
auf dem Altare des Vaterlandes geopfert werden müssen!“
Es soll durch das Referieren dieser Quelle nicht der Eindruck
entstehen, als sei die Glockenvernichtung eine rein deutsche
Erfindung: in der Zeit unmittelbar nach der Französische Revolution
wurde eigens ein Gesetz erlassen, das jede Art der Einladung zum
Gottesdienst unterbinden wollte und deshalb den Gebrauch von Glocken
verbot. In ganz Frankreich wurden damals mehr als 100.000 Glocken
vernichtet. Es wurden besondere Maschinen konstruiert, um besonders
große Glocken, die man nicht vom Turm schaffen konnte, an Ort und
Stelle zu zerschlagen; so haben an der zweitgrößten Glocke von
Notre-Dame von Paris acht Männer sechs Wochen lang gearbeitet, um
sie auf dem Turm zu zertrümmern.
Genügend Bronze, etwa für Granatringe, verfügbar zu haben, war ein
zentrales militärisches Anliegen. Daher wird von der Obersten
Heeresleitung schon zu Kriegsbeginn
überlegt, wie dieses Vorhaben erfolgreich umzusetzen sein kann, ein
Projekt, das sich im zweiten Weltkrieg nahezu identisch wiederholen
wird. 1940 wird es im Reichsgesetzblatt heißen: "Um die für eine
Kriegsführung auf lange Sicht erforderliche Metallreserve zu
schaffen, ordne ich an: ... Die in Glocken aus Bronze und
Gebäudeteilen aus Kupfer enthaltenen Metallmengen sind zu erfassen
und unverzüglich der deutschen Rüstungsreserve dienstbar zu machen."
Die Vorgehensweise kann in der Rückschau nur als "sehr gründlich"
charakterisiert werden: insgesamt werden in Deutschland bis
Kriegsende 44 Prozent aller Kirchenglocken zu Kriegsgerät
umgeschmolzen.
Das Ende der Ratzeburger Domglocken der Firma C. Voss beginnt mit
einem Schreiben
des Großherzoglichen Konsistoriums in Neustrelitz vom 14. März
1917. Der Briefabsender weist den Domprobsten auf (die hier ja nicht
relevante) Möglichkeit hin, Bronzeglocken, die einen
herausragenden Geschichts-
oder Kunstwert haben, als solche zu melden.
Nur wenige Tage später erreicht die Domprobstei ein
Brief der
Großherzoglich Mecklenburgischen Landvogtei des Fürstentum
Ratzeburgs aus Schönberg. Er enthält außer dem Anschreiben und
einigen Meldeformularen (eins für jede Glocke!) den Hinweis, daß es
die Möglichkeit gibt, nicht aus Bronze hergestellte Glocken von der
Beschlagnahme zu befreien, aber das trifft für die Domglocken nicht
zu.
Da die Dienststelle in Schönberg die bevorstehende Abnahme-Aktion
bekannt gemacht hat, melden sich jetzt einschlägige Dienstleister
beim Domprobst mit der Offerte, die erforderlichen Arbeiten sach-
und termingerecht ausführen zu wollen. In Form einer Postkarte,
adressiert an "Das Hochwürdige Pfarramt", unterbreitet die Lübecker
Firma M. & C. Ohlsson, Hofglockengießer, ihr Angebot:
Schreiben der Firma Ohlsson
vom 20. März 1917.
Quelle: Archiv der Domprobstei.
Für die Ratzeburger Domglocken gibt es jetzt kein
Entrinnen mehr: sie sind a) aus Bronze, b) nicht historisch oder von
besonderem kunstgeschichtlichen Wert und c) es ist auch
nicht schwierig, sie auszubauen, mit Flaschenzügen abzuseilen und
wegzutransportieren:
Blick aus dem unteren Hauptturm-Geschoß
über den Domsee, 2012.
Für den gegenteiligen Fall hätte die
Militärfiskalbehörde eine Ausnahme zugelassen. Im zugehörigen
Formblatt (Richtlinien für die Anmeldung von Glocken) heißt es dazu:
"In Spalte 4 ... sind die Glocken aufzuführen, die so schwierig
hängen, dass die Kosten des Einbaues der Ersatzglocken
(ausschließlich des Wertes derselben) den vergüteten Metallpreis
übersteigen. Für derartige Glocken ist in Spalte 6 das Kennwort
'Hohe Einbaukosten' einzutragen, ebenso in Spalte 7 der Name der
zuständigen Kirchenbehörde oder eines Glockengiessers." (In Wismarer
Kirchen konnten auf diese Weise mehrere historische Glocken vor dem
Einschmelzen bewahrt werden. Die Kirchenleitung machte glaubhaft, daß durch ein späteres Einziehen von Gewölben in unteren
Turm-Geschossen ein Wiederausbau der großen Metallkörper unmöglich ist).
Im Mai 1917 wurde ein Flugblatt verbreitet mit dem Motto: "Gedenket unserer
Glocken!" Dort heißt es einleitend: "In den nächsten Monaten wird
eine große Zabl von Kirchenglocken in Deutschland zu militärischen
Zwecken beschlagnahmt werden. Und wenn dabei auch die durch Alter,
Kunstwert und schönen Klang hervorragenden Glocken verschont bleiben
sollen, so werden doch viele andre verschwinden, die vordem die
Herzen vieler Geschlechter in festlich frohen und ernsten Stunden
erbaut und gerührt haben. Darum tritt an alle Freunde des deutschen
Volkstums die Mahnung heran, ihr Andenken festzuhalten und sowohl
die Sprüche, mit denen sie geziert waren, als die mannigfachen
Bräuche und Sagen, die sich in den einzelnen Ortschaften an sie
knüpfen, sorgsam aufzuzeichnen, ..." eine Aufforderung, der auch das
Großherzoglich Mecklenburgische Konsistorium in einem Dienstbrief
vom 1. Juni 1917 Nachdruck verlieh. Von Ratzeburger Seite konnte
hier dem letzten Satz dieses Schreibens entsprochen werden:
"Diejenigen Herren Pastoren, die hierzu nicht wirklich Denkwürdiges
zu berichten wissen, brauchen nicht zu antworten."
Die Angelegenheit war entschieden, am 28. Juni erreicht ein bereits
erwarteter Brief
die Dompropstei: mit der "Anordnung betr.
Eigentumsübertragung auf den Militärfiskus" verliert die Domgemeinde
vier Domglocken. Der Brief stellt unmißverständlich klar: das
Eigentum an den Glocken geht auf den Militärfiskus über; "... sobald
Ihnen diese Anordnung zugegangen ist." Vier große Glocken waren
abzuliefern, eine ganz kleine (ehemalige Schulglocke) durfte bleiben
gemäß der Zusatzbestimmung in den "Richtlinien für die Anmeldung von
GlockenŽ", in denen es abschließend heißt: "Hinzugefügt sei, daß
alle bronzenen Kirchenglocken unter diese Beschlagnahme fallen,
sofern sie nicht unter 20 kg wiegen oder einem mechanisch
betriebenen Glockenspiel angehören." Diese Einschränkung klingt nur
auf den ersten Blick großzügig, denn es stellte sich heraus, daß nur
ca. 3 Prozent sämtlicher Kirchenglocken in diese Rubrik fielen.
Dem Kirchenvorstand war es darüber hinaus gelungen, eine 900 kg
schwere Glocke vorläufig vor dem Einschmelzen zu schützen. Ein
Archivdokument vom 30. Juni 1917 gibt Aufschluß darüber, daß der
Versuch, sie als "Gottesdienstbedarf" einzustufen, von Erfolg
gekrönt war. Der hierfür zuständige Sachverständige in Neustrelitz,
Ministerialbaurat Schondorf, hatte ein entsprechendes Gutachten
erstellt. Damit war diese Glocke "von der Enteignung und Ablieferung
vorläufig auf jederzeitigen Widerruf zurückgestellt bezw. von der
Beschlagnahme, Enteignung und Ablieferung befreit."
Eine Verzögerung der Abnahme entstand nur dadurch, daß die hierzu
befähigten Firmen spürbar überlastet waren. Da der
Bedarf im Sommer 1917 offenbar sehr groß ist, entschließt sich die
militärische Führung, Soldaten zum Abbau und Abtransport zur
Verfügung zu stellen. Am 7. Juli 1917 geht in der Domprobstei ein
diesbezügliches
Schreiben ein: "Die Heeresleitung verlangt tunlichste
Beschleunigung des Ausbaues der Glocken. Falls die verfügbaren
Hilfskräfte (Zimmerleute, Bauunternehmen, Glockengießer) zum
rechtzeitigen Ausbau und Abtransport der Glocken nicht ausreichen,
kann beim stellvertr. Generalkommando eine militärische Kolonne für
den Ausbau von Glocken angefordert werden. Im Bedarfsfalle werden
auch Militärautos bezw. Militärfuhrwerke für den Abtransport der
Glocken zur Sammelstelle bezw. zur Bahn soweit möglich zur Verfügung
gestellt. Die Kosten für den Ausbau hat die anfordernde Stelle an
das Generalkommando zu vergüten. Sie sind einheitlich geregelt und
auf M. 15 für jede MIlitärperson und für jeden Arbeitstag
festgesetzt. Die Kosten des Abtransportes der herausgenommenen
Glocken geht ebenfalls zu Lasten der anfordernden Stelle. ... Als
neuer Ablieferungstermin tritt alsdann der Tag, an dem das
Militärkommando die Ablieferung bewirkt, in Kraft. Es wird zur
Kenntnis gegeben, daß etwaige Anforderungen an das
Ersatz-Pionier-Batl. Nr. 9 zu richten sind."
Zwei Tage später bietet der Inhalt eines Briefes der Großherzoglich Mecklenburgischen
Landvogtei gedankliche Hilfe zur Entscheidung der Frage, ob
militärische Hilfe oder die des Glockengießers Ohlsson in Anspruch
genommen werden sollte (Alternativen gab es nicht, denn:
"Was die Uebertragung der Arbeit an die Firma Ohlsson betrifft, so
ist diese vom Großherzoglichen Ministerium als einzigste
Glockengießerei in Vorschlag gebracht, mit der in Verbindung zu
treten sei.") Der Vorschlag der Landvogtei zielt darauf hin, eine
Vorab-Glockensammlung vorzunehmen: "Um eine Erleichterung in der
Ablieferung der Glocken eintreten zu lassen, schlägt die Landvogtei
vor, die Uebergabe der Glocken dort an Ort und Stelle vorzunehmen
und sie dort bis zum Abruf durch die Metallmobilmachungsstelle dort
unterzustellen. Es würden hierdurch die Kosten des Transports nach
Schönberg fortfallen.
Vielleicht könnte auch der Pfarre in Ziethen anheimgegeben werden,
die abzuliefernde Glocke nach dem Domhof zu bringen."
Es trifft rasch ein Angebot der Firma
Ohlsson an den Domprobsten
Carl Ludwig Bossart ein: "Kostenschlag. - Herabnahme von zwei großen
Glocken im Gewicht von ca. 5000 kg sowie 2 kleine Glocken im
Dachreiter, Stellung eines Montörs, Reise, Aufenthaltskosten,
Unfallversicherung, Zeitbeanspruchung und sonstige Bemühungen,
erforderliche Hebewerkzeuge nebst Ketten und sonstige Materialien
einschl. Fracht, sowie Stellung von Beihülfen, Bauhölzer etc.
Anfuhren von Geräthen und Glocken zur Bahn nebst Verladung: M.
700.-"
Dem Domprobsten wird vor Allem der Zusatz gefallen haben: "Wir
verpflichten uns, die Abbauarbeiten bis spätestens Ende Juli
auszuführen," denn die diesbezügliche Aussage der Heeresleitung, die
ihm schriftlich zugegangen war, besagte klar: "Die Bronzeglocken
sind von den Bauwerken zu entfernen, und in der Zeit vom heutigen
Tage bis zum 31, August 1917 an die Sammelstelle: Schönberg, Siemzer
Straße 106 (Schleifermeister Reuter) abzuliefern. Die
Ablieferungspflichtigen, welche die von dieser Anordnung betroffenen
Bronzeglocken nicht rechtzeitig abliefern, machen sich strafbar; die
enteigneten Bronzeglocken werden außerdem im Zwangswege auf Kosten
des Besitzers abgeholt werden."
Von diesen avisierten Zwangsmaßnahmen abgesehen machte es für den
Domprobsten auch in finanzieller Hinsicht Sinn, die ohnehin nicht zu
vermeidende Ablieferung nach Kräften zu beschleunigen, denn in der
Anordnung der Heeresleitung fand sich als Anreiz der Satz: "Für
diejenigen Glocken, die bis zum 31. Juli 1917 ausgebaut und an die
Sammelstelle abgeliefert sind, wird außer den Uebernahmepreisen
(Off. Anz. 1917 Nr. 21) eine Prämie von 1 Mark für das Kilogramm
gezahlt werden." - Bei einem abzuliefernden Gesamtgewicht von weit
über vier Tonnen war das eine nicht unbeträchtliche Summe, die für
die spätere Wiederbeschaffung eine spürbare Rolle für die Domkirche
hätte spielen können.
Domprobst Bossart hatte - um zweigleisig vorzugehen - sich auch
schriftlich nach militärischer Hilfe
erkundigt, doch eine eher unbestimmte
Antwort auf seine Anfrage
erhalten. Somit fiel seine Wahl auf die Lübecker Firma
Ohlsson. Er telegrafiert seine Zustimmung, erhält auch umgehend eine
Bestätigung.
Kinder und die bereits für den Abtransport
bereitgestellten Glocken an der Westseite
des Doms. Unbekannter Fotograf, 1917.
Kurz vor dem Abtransport entsteht eine Art Abschiedsfoto: einige
Kinder nutzen die Gelegenheit, sich die großen Bronzeglocken, die
bereits herabgelassen und direkt unterhalb der beiden westlichen
Turmtüren abgestellt wurden, anzuschauen.
Am 25. Juli ist es dann so weit. Die ausgebauten Domglocken werden
mit Waggons der Ratzeburger Kleinbahn (zusammen mit anderen Glocken)
Vier Frachtdokumente der
Ratzeburger Kleinbahn vom Juli 1917
(Gewichtskarten)
zum Reichsbahnhof geschafft, von dort erfolgt die
Beförderung ins
mecklenburgische Schönberg; zuletzt sorgt die dortige
Güterabfertigung
für den Transport in die Siemzerstraße zur Sammelstelle bei Herrn
Reuter. In seinem Hof gab es in jener Zeit eine große Ansammlung von
Glocken. Die aus Selmsdorf hatte man gleich vor Ort zerschlagen,
obwohl die Heeresleitung - wohl aus Gründen der Rücksichtnahme auf
die Gefühle der Menschen - dies nur als
Ausnahme zugelassen hatte.
Kontrolle der eingegangenen Glocken
(-Teile)
Fotograf: Friedrich Thiele
Wie penibel die Militärbehörde mit den enteigneten Metallkörpern
umging, zeigt indirekt ein weiteres Archivdokument: Domprobst
Bossart fragt am 19. September 1917 in einem Brief an die
Großherzogliche Landvogtei in Schönberg nach, wie es sein kann, daß
aus Ratzeburg zwar 4734 kg Glockenmaterial abgeliefert, aber nur
4691 kg in Rechnung gestellt wurden, also
immerhin 43 kg zuungusten der Domkirche. Er erhält zur Antwort, daß
ein Fehler der Annahmestelle vorliegt, die Angelegenheit soll später
geklärt werden.
Die Gründlichkeit des gesamten Vorgehens erweist sich auch in einer
Zusatzbestimmung innerhalb der "Anordnung zur Enteignung", nämlich
in einer Art 'Postleitzahl-Vorläufer': "Vor dem Abtransport sind die
Glocken zu bezeichnen, am besten mittels Oelfarbe, Bleiweißfarbe und
dergl. Die Bezeichnung muss erkennen lassen: die Kirchengemeinde,
der die Glocke gehört und eine Angabe, ob die Glocke aus einer
Nebenkirche, einer Filialkirche oder einer Pfarrkirche stammt." Die
Domkirchgemeinde hatte zusätzlich Fotos anfertigen lassen, um das
exakte Aussehen der abzuliefernden Glocken zu dokumentieren.
Jetzt bekommt die Domkirche den
Gegenwert der enteigneten Glocken
ausbezahlt (mit der offerierten Prämie für vorzeitige
Ablieferung). Für den Militärfiskus
ist die Angelegenheit damit erledigt, für die Ratzeburger bleibt die
Frage, ob die Glocken tatsächlich eingeschmolzen werden oder ob eine
Chance besteht, sie nach Ende der Kampfhandlungen zurückzubekommen.
Gut ein Jahr nach Kriegsende zeitigen die
Nachforschungsversuche eine erste, wenn auch negative Reaktion: die
"Geschäftsstelle der Kriegsmetall
Aktiengesellschaft
in Liquidation" in Hamburg teilt mit, daß sich die damals
angelieferten Glocken nicht mehr auf dem Lager der Firma befinden.
"Soweit wir feststellen konnten, sind die von Ratzeburg hier
eingetroffenen Glocken zum Einschmelzen weiterversandt." Auch
weitere Anfragen, sowohl von Domprobst Carl Ludwig Bossart als auch
von privater Seite, führten nicht zum erhofften Erfolg. Ende Juni
1921 heißt es in einem Schreiben des 'Reichskommissars
für die Abwickelung der Metallmobilmachung' lapidar: "Die Rückgabe
erhalten gebliebener Bronzeglocken ist seitens des Reiches auf Grund
eines gemeinsamen Beschlusses mit den Regierungen der Länder am 1.
Juni ds. Js. eingestellt worden."
Hierzu paßt der Glockenzierspruch
(Kirche in Wiesloch):
"In Deutschlands Kampf um EhrŽ und
Macht /
Ward Glockenopfer froh gebracht. /
Es war umsonst; in Not und Leid /
Verging des Reiches Herrlichkeit."
Es ist klar, daß jetzt nur noch eine
Neubeschaffung in Aussicht steht. Hans Pfeifer hatte hierzu 1917 in
seiner oben erwähnten Schrift zum Thema 'Ersatzglocken' eine klare Empfehlung ausgesprochen:
"Für das GELÄUT sollen nur wieder BRONZEglocken in
Frage kommen, während für Schlagglocken der Uhren auch
Gußstahlglocken geeignet sind." Doch Recherchen zeigen rasch, daß
die notwendige Bronzemenge nicht zu haben ist. Domprobst Bossart
müht sich vielfach, so stellt er im Mai 1922 schriftlich die Frage
an das Marine-Arsenal Kiel-Ellerbek, ob die Domkirche vielleicht
kostenlos unbrauchbare Hülsenkartuschen bekommen könnte. Eine
zunächst positiv klingende Antwort motiviert ihn, einen förmlichen Antrag
zu stellen. Allerdings trifft vier Wochen später eine
Postkarte
ein, die auch diese Hoffnung zunichte macht.
Die Möglichkeit, aus Eigenmitteln regulär Bronzematerial (üblicherweise eine
Legierung aus 75-78 Prozent Kupfer und 22-24 Prozent Zinn) im In-
oder Ausland zu beschaffen, verbot sich für die Kirchengemeinde von
selbst, zumal die damals gezahlte Enteignungs-Prämie zwar einem
speziellen Glocken-Fond zugeführt wurde, doch nach dem harten
Währungsschnitt 1923 war davon nur ein Bruchteil übrig. Daher
dauerte es bis zum Jahr 1926, bis bei der Firma Schilling &
Lattermann im thüringischen Apolda ein neues
Glockengeläut
bestellt
werden konnte, nicht aus Bronze, sondern aus Klangstahl:
"Was vordem ehern unser Mund, /
Das tun wir jetzt in Stahl Euch kund."
Diese Lösung konnte durchaus als
akzeptabel erscheinen, zumindest dann, wenn man den positiven
Einschätzungen Glauben schenkte, mit denen dieses relativ neue
Glocken-Material in der einschlägigen Literatur bedacht wurde. So
beschreibt Dipl.-Ingenieur Franz Eiermann im 2. Band des Bochumes
Heimatbuchs in seinem Aufsatz "Bochumer
Gußstahlglocken.", offenbar von Firmenvorgaben beeinflußt, ihre
wundersamen positiven Eigenschaften. Er stellt in seinen Überlegungen zwei
Fragen besonders heraus: Wie bewähren sich Gußstahlglocken im Vergleich mit
Bronzegeläuten im praktischen Gebrauch (wie ist die Haltbarkeit)? Wie sind die klanglichen
Eigenschaften?
"Die erste Frage ist bald beantwortet. Das an sich zweifellos als
Mangel anzusprechende Abrosten verwahrloster Glocken besitzt nicht
die ihm meist zugemessene übertriebene Bedeutung. Auch eine ziemlich
dicke Rostschicht enthält aus chemischen Gründen nur eine recht
bescheidene Menge Eisen und wird daher den Klang in merkbaren
Grenzen nicht beeinflussen. Im übrigen ist der Rostgefahr durch
Erneuerung des Oelanstriches in etwa fünfjährigen Zwischenräumen mit
Kosten vorzubeugen, die nur einen bescheidenen Bruchteil dessen
bilden, was im gleichen Zeitraume die Verzinsung der Mehrkosten
einer Bronzeglocke ausmacht. Diese Mehrkosten sind sehr erheblich
und betragen bei größeren Glocken mehrere tausend Mark.
Aber auch
vom Standpunkt der Haltbarkeit ist die Stahlglocke weit überlegen.
Während alljährlich eine große Anzahl von Bronzeglocken springt und
umgeschmolzen oder in kostspieliger Arbeit nach besonderem Verfahren
ausgebessert werden muß, ist bisher noch kein Fall des Springens von
Stahlglocken bekannt geworden, was bei den weit überragenden
Festigkeitseigenschaften des Gußstahles leicht zu erklären ist. Aus
eben diesem Grunde ist auch die Abnutzung der naturharten
Stahlglocken bei Gebrauch bronzener Klöppelbolzen so gering, daß
nach menschlicher Voraussicht ein Ersatz wegen Abnutzung kaum jemals
vorkommen wird, während Bronzeglocken verhältnismäßig bald eine
merkbare Formänderung an der Anschlagstelle zeigen und nach
mehrfachem Umhängen wegen allgemeiner Schwäche des Schlagringes
bereits nach etwa drei Jahrhunderten zugrunde gehen.
Für die größere Lebensdauer der Stahlglocke kann noch ein anderer
Umstand ins Feld geführt werden. Angesichts der Häufigkeit von
Turmbränden ist die Bronzeglocke ihres niedrigen Schmelzpunktes
wegen erhöhter Gefährdung ausgesetzt und wird zumeist ein Opfer der
Flammen werden oder beim Niederfallen zerspringen. Stahlglocken
dagegen erliegen erfahrungsgemäß ihres hohen Schmelzpunktes wegen
der Hitze nicht und überstehen im allgemeinen nach dem
Zusammenbruche des Glockenstuhles den Fall in die Tiefe unversehrt.
So fand man häufig, z. B. nach dem Brande der Berliner
Garnisonkirche, das abgestürzte Geläute wohlbehalten unter den
Trümmern vor.
Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit kann man also den Stahlglocken den
„Ersatz"-Charakter im Sinne der Kriegs- und Nachkriegszeit
keinesfalls unterschieben, wiewohl es an Versuchen dazu
begreiflicherweise nicht gefehlt hat."
F. Eiermann wendet sich dann der Klangfrage zu.
Ohne die folgende Aussage in irgendeiner Form zu begründen,
urteilt er so: "Fülle und Reichweite der Stahlglocke sind
schon mit Rücksicht auf die vergrößerte Mensur bei gleicher Tonhöhe
überlegen."
Dies trifft nur dann zu, wenn ungleich große Glocken
miteinander verglichen werden, eine Klangstahlglocke muß wesentlich
größer sein, um das gleiche Klangvolumen zu erzeugen wie eine
Bronzeglocke eines vorgegebenen Gewichts. Immerhin räumt Herr
Eiermann ein: bei "höheren Tönen ist der Bronzeglocke der
Vorzug zu geben (...), während in den mittleren
Lagen Gleichwertigkeit besteht, und daß in der Tiefe, also bei
größeren Glocken, Gußstahl überlegen ist."
Der Domprobst hat keine Wahl: wenn
neue Glocken angeschafft werden sollen, können es nur Metallkörper
aus Klangstahl werden. Auf Nachfrage erfährt die
Domkirchgemeinde, daß die Aufgabe, eine geographisch weit verstreute
Gemeinde möglichst in toto akustisch zu erreichen, nur durch
besonders voluminöse Gußglocken zu
erzielen ist. Die aber sind so schwer, daß eine traditionelle Aufhängung
(an der Glockenkrone) unmöglich ist, weil dann auf sowohl auf den Glockenstuhl
als auch auf den
Turm übergroße Kräfte einwirken, es muß daher eine Behelfslösung
Verwendung finden, die sogenannte "gekröpfte Aufhängung".
Neue Ratzeburger Klangstahlglocke
mit Klöppel und weiterer Glocke.
Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.
Wie das Foto anschaulich macht, hängt
die Glocke nicht an einer geraden Achse, sondern ist auf zwei
seitlichen Stelzen gelagert. Durch das Kröpfen der Glockenjoche wird
der Schwerpunkt der Glocke nach oben verlagert, die Glocke benötigt
weniger Platz zum Schwingen, es findet eine eine geringere
Belastung des Turmes beim Läuten statt. So kann eine Glocke
aufgehängt werden, die eigentlich zu groß für den Turm ist.
Allerdings verliert der Klang durch die Kröpfung, sie verlangsamt
die Glocke und ihr Läuten wirkt dadurch spürbar weniger lebendig. Darüber
hinaus sind gekröpfte Joche stärker bruchgefährdet als bei einer
Aufhängung an der Glockenkrone (die hier gar nicht vorhanden ist).
Die bald festgestellte klangliche Minderung durch das Material Stahl
und der weitaus geringere Nachklang konnten durch ein gemeinsames
Läuten mehrerer Stahlgußglocken gleichzeitig kaschiert werden.
Immerhin konnten die schwereren
Glocken in einen ja erst etwa drei Jahrzehnte alten eichenen
Glockenstuhl gehängt werden. Dank seiner schwingungsdämpfenden
Eigenschaften hat er sich - gegenüber eisernen Glockenstühlen -
als das weitaus bessere Material erwiesen.
Hinweis auf die im Weltkrieg
abzuliefernden alten Kirchenglocken.
Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.
Im Sommer 1926 werden dann die neuen
Klangstahlglocken - sie wurden nicht in Bochum, sondern in Apolda
hergestellt - in Ratzeburg angeliefert. Mit geschmückten
Fuhrwerken werden sie anschließend zur Westseite des Domes gebracht,
um von dort aus mit Flaschenzügen an ihren Bestimmungsort zu
gelangen. Auf der zweizeilig umlaufenden Inschrift der größten
Glocke wird auf ihren Ersatzcharakter hingewiesen: "Für im
Weltkriege abgelieferte Glocken gegossen Ostern 1926".
Die auf dem folgenden Foto
abgebildeten Zuschauer belegen im optischen Vergleich eindrücklich
die Mächtigkeit der neuen Klangkörper.
Foto: Albert Hannig, Ratzeburg, 1926.
Darauf scheint auch der Domprobst in seiner Glockenweihe-Predigt
angespielt zu haben, denn am 4. August berichtete die
"Lauenburgische Zeitung (Ratzeburger Anzeiger)": "Als die drei neuen
Domglocken vor drei Wochen kamen, erwies sich, daß der Glockenstuhl
für die größte Glocke umgebaut werden mußte: so verzögerte sich die
Einweihung der Glocken bis zum Ostersonntag. [...] Ohne Geläute
begann der Gottesdienst, nur von weitem hörte man die Stadtglocken,
grüßend, fragend: 'Wie werdet ihr sein? Werdet ihr uns Geschwister
sein, oder wird es ein Mißklang mit uns werden?' - Nach der
Einleitungsliturgie begrüßte der Domchor die Glocken mit einem
dreistimmigen Liede; darauf hielt Herr Dompropst Bossart die
Weiherede. Er wies darauf hin, daß die alten schönen Domglocken dem
Zweck nicht gedient hätten, für den die Gemeinde sie geopfert habe.
Sie seien nicht zerschlagen und als Kriegsmaterial verwandt worden,
sondern elend verschachert, und es sei nicht möglich gewesen, sie
zurückzukaufen, nachdem sie durch viele Hände gegangen. Man solle
ihnen aber nicht nachtrauern, sondern sich freuen, daß man wieder
ein Geläute bekommen habe, das an Größe nur von wenigen in der Welt
übertroffen werde."
Domprobst Bossart war sicher nicht vollständig zufrieden mit
dieser Ersatzlösung, gerade weil er sich so intensiv um neue
Bronzeglocken bemüht hatte, doch aus der Rückschau läßt sich
feststellen, daß sich die Ratzeburger nur wenige Jahre hätten daran
erfreuen können, denn die Nationalsozialisten gingen bei ihrer
Metallmobilmachung rigoroser vor (es gab keine Entschädigung für
enteignete Glocken) und hätten "junge" Bronzeglocken ohne Wenn und
Aber einschmelzen lassen.
Auf Grund ihrer Beschaffenheit haben die Klangstahlglocken
den zweiten Weltkrieg im Domturm überdauert und dienten der Ratzeburger
Domkirchgemeinde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Dann aber wurden
(Rost-)Schäden immer deutlicher.
Handwerker schufen jetzt durch das Aufbringen von Holzdreiecken eine
pfiffige Form von Treppenstufen (mit seitlichem Handlauf), um dem
immer größer werdenden Pflege- und Reparaturbedarf leichter Rechnung
tragen zu können.
In den 1980er Jahren wurde überdies versucht, dem
Glockenstuhl durch verschraubte Eisenbänder und aufgenagelte Latten
eine dringend benötigte zusätzliche Verstärkung zu geben, denn trotz
der gekröpften Aufhängung entstanden - gerade beim vollen Geläut -
enorme Kräfte. Doch diese Maßnahmen milderten nur die Auswirkungen,
beseitigten nicht die Ursache der Probleme.
Letztlich wurde allen Beteiligten klar, daß die Zeit dieser
Klangstahlglocken - nach nicht einmal einem Dreivierteljahrhundert
Läutebetrieb - ihrem Ende zuging und die Frage, was jetzt zu tun
sei, wurde dringender. Der damalige Domprobst Hans-Jürgen Müller
forcierte den Plan eines neuen Geläutes mit Bronzeglocken. Das jetzt
folgende Kapitel zeichnet den Ablauf der Geschehnisse nach.
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